Fünfte Jahreszeit in NRW Warum Karneval glücklich macht

Jetzt beginnt die heiße Phase der Session. Eine Psychologin und ein Sozialwissenschaftler erklären, weshalb der Karneval menschliche Bedürfnisse befriedigt und wie man ihn auch Nicht-Jecken schmackhaft machen kann.

Eine Fußgruppe von Clowns beim Rosensonntagszug in Düsseldorf 2016.

Eine Fußgruppe von Clowns beim Rosensonntagszug in Düsseldorf 2016.

Foto: dpa, mjh fdt

Wir sagen es sonst nicht so oft, jetzt ist es endlich wieder soweit: Helau! Das rufen sogar Wissenschaftlicher aus, vermutlich etwas leiser, und zudem denken manche von ihnen über das Phänomen Karneval nach. Der ist nämlich der organisierte Ausbruch aus der Vernunft — so beschreibt die Düsseldorfer Diplom-Psychologin und Paartherapeutin Gabriele Birnstein das, was man die fünfte Jahreszeit nennt.

Gesellschaftliche Regeln würden auf den Kopf gestellt, Konventionen gebrochen, und der Mensch zeigt sich von einer Seite, die er den Rest des Jahres zwischen gebügelten Hemden im Schrank hängen hat. Karneval bedeutet für viele tagelange Hochstimmung, eine Zeit, in der Unmögliches möglich wird.

"Karneval kann Sehnsüchte erfüllen"

Nun steht die heiße Phase der Session vor der Tür: In der kommenden Woche erobern die Möhne das Rathaus, nicht nur Säle, sondern auch die Kneipen füllen sich mit Kostümierten — und durch die Innenstadt und die Stadtteile ziehen wieder die bunten Züge.

Der kollektive rheinische Wahnsinn birgt laut Diplom-Psychologin Birnstein aber auch Gefahren. "Karneval kann Sehnsüchte erfüllen", sagt die 61-Jährige. Weil man sich an Tagen wie Altweiber und dem Rosenmontag verkleiden dürfe, könne man einmal auch im echten Leben die Rolle wechseln und sich neu präsentieren, zum Beispiel als Pilot, Polizist oder Piratin. Jeder wolle gerne mal jemand anderes sein.

Erleichtert werde dies durch die berauschende und enthemmende Wirkung des einen oder anderen Glas Alts. Mit steigendem Pegel werde die neue Rolle als sehr ausfüllend empfunden. Am nächsten Tag kann alles allerdings schon wieder ganz anders aussehen, erklärt Birnstein - und bestätigt eine im Karneval sehr oft leidvoll erprobte Erkenntnis.

Schon immer auch ein "rituelles Aufbegehren"

Die Psychologin hat mindestens drei Typen Mensch ausgemacht, für die der Karneval ein Glücksmoment ist: Jene, die ihn schon seit ihrer Jugend feiern; jene, die einen Vorwand suchen, einen zu heben; und jene, die hoffen, in einer Verkleidung den Mut zu haben, den Partner fürs Leben — oder wenigstens die Nacht — zu finden. "Datingseiten und -Apps wie Tinder sind zwar auch anonym, Karneval ist aber live, da gibt es Menschen zum Anfassen."

"Potenzielle sexuelle Kontakte sind natürlich ein Reiz", sagt Ulrich Rosar, Sozialwissenschaftler an der Heinrich-Heine-Universität. Die Flucht vor dem Alltag, im Fachjargon Eskapismus genannt, und die kleiner werdende Distanz zwischen den feiernden Menschen machten den Karneval attraktiv. Vor allem Letzteres spiele heute eine viel größere Rolle als früher: "Im Mittelalter hatte der Karneval eine starke religiöse Komponente, er stand für das Genießen vor der Fastenzeit", erklärt Rosar.

Schon immer sei er auch ein "rituelles Aufbegehren" gewesen, eine symbolische Umkehr der Machtverhältnisse. Heute gebe es dagegen ein neues "Ohnmachtsgefühl", aus dem man durch den Karneval entkommen könne. Die Mühlen der Bürokratie, digitale Distanz und die anonyme Massengesellschaft seien der zeitgenössische Feind, dem die Jecken die lange Nase zeigten.

Lachen über sich selbst und andere — und wieder einmal Kind sein

"Kostüme erleichtern das", sagt Psychologin Birnstein. Anders als sonst habe man durch sie eine gemeinsame Gesprächsebene, die es auch schüchternen Menschen möglich mache, auf Gruppen zuzugehen. Dennoch habe die Nähe, die bei Massenveranstaltungen wie dem Straßenkarneval herrsche, Schattenseiten: "Man kann viel schwieriger selbst über sich bestimmen", sagt die Psychologin. Im Gedränge sei es vor allem Frauen oft nicht mehr möglich, die Grenzen zwischen einem Bützchen und einer Bedrängung geltend zu machen.

Gemeinschaftsgefühl, Gleichheit unter den Feiernden, das Lachen über sich selbst und andere, und wieder einmal ein Kind sein — das sind für Birnstein die guten Seiten des Karnevals, die es nicht nur im Straßenkarneval, sondern auch bei den Sitzungen der Vereine gibt. "Egal, wie förmlich die Sitzung abläuft: Am Ende wird nur noch gefeiert", sagt sie. Und nur im Karneval zögen die Menschen ihren natürlichen "Distanzkreis" wesentlich kleiner, wenn sie mit jedermann Schulter an Schulter schunkelten.

Wer bislang weder das heimelige Nebeneinander in den Festsälen noch den abenteuerlichen Straßenkarneval für sich entdeckt hat, für den hat die Psychologin einen Tipp: "Gehen Sie nicht alleine, sondern mit Freunden, und nehmen Sie nur eine kleine Dosis." Eines sei allen zur Entschuldigung gereicht, die so gar nicht warm werden können mit dem bunt feiernden Volk: "Es ist auch möglich, ohne Karneval glücklich sein."

(bur)
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