Interview mit Burkhard Hintzsche und Hartmut Mühlen "Düsseldorfer Senioren sind häufiger arm"

Düsseldorf · Mehr als 9000 Düsseldorfer über 65 Jahre können ihren Lebensunterhalt nur mit Hilfe der Grundsicherung bestreiten. Ein Fachtag sucht nach Strategien, die neben dem materiellen Mangel auch das Thema Einsamkeit in den Blick nehmen.

 Hartmut Mühlen, Experte des Seniorenrats, und Stadtdirektor Burkhard Hintzsche glauben, dass die Dunkelziffer beim Thema Altersarmut über den offiziellen Kenndaten beispielsweise zur Grundsicherung liegt.

Hartmut Mühlen, Experte des Seniorenrats, und Stadtdirektor Burkhard Hintzsche glauben, dass die Dunkelziffer beim Thema Altersarmut über den offiziellen Kenndaten beispielsweise zur Grundsicherung liegt.

Foto: Anne Orthen

Herr Hintzsche, das Thema des Fachtages im Rathaus ist die Armut im Alter. Gefühlt nimmt das Problem zu, gibt es auch belastbare Fakten?

Hintzsche Tatsächlich ist die Bewertung nicht ganz einfach. So sagt die Höhe der gesetzlichen Rente alleine noch nichts aus, da das Einkommen im Alter häufig aus verschiedenen Standbeinen besteht. Mal kommt eine Betriebsrente hinzu, mal eine private Vorsorge, bei einigen auch Einnahmen aus Vermögen und Grundbesitz.

Woran machen Sie dann fest, ob ein Düsseldorfer Senior arm ist?

Hintzsche Unser wichtigster Maßstab ist die Grundsicherung im Alter, also die staatliche Unterstützung derjenigen, die ohne zusätzliche finanzielle Hilfe ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können.

Wie arm sind gemessen daran ältere Düsseldorfer?

Hintzsche Überdurchschnittlich arm. Das belegt eine aktuelle Statistik des Landes. Danach erhalten 10,3 Prozent der Menschen ab 55 Jahren staatliche Transferleistungen. Das sind fast 20.000 Bürger. Im nordrhein-westfälischen Landesschnitt liegt diese so genannte Mindestsicherungsquote nur bei 6,4 Prozent.

Und wie ist die Entwicklung in den vergangenen Jahren?

Hintzsche Im Jahr 2010 erhielten 6719 Menschen ab 65 Jahren eine Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch. 2017 waren es bereits 9190 Männer und Frauen, also 7,6 Prozent derjenigen, die in diese Altersgruppe fallen.

Herr Mühlen, welche Lebenswirklichkeit steht hinter den Zahlen?

Mühlen Am Ende geht es um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Menschen, deren Waschmaschine nach zig Jahren aufgibt, stehen plötzlich vor einem Problem, das ihnen schlaflose Nächte bereitet. Andere können mit ihren Bekannten oder Nachbarn nicht ins Brauhaus, weil diese Ausgabe das Budget sprengen würde. Einige wissen nicht einmal, wie sie eine neue Brille oder die Batterie fürs Hörgerät bezahlen sollen. Wir reden bei all dem nicht nur über Geld, sondern immer auch über Würde.

Manche nennen es einen Skandal, dass Menschen, die die Bundesrepublik zu dem gemacht haben, was sie ist, ohne die Lebensmittel der Tafel nicht klar kommen.

Mühlen Ein evangelischer Pfarrer hat kürzlich im Arbeitskreis Altersarmut des Seniorenrates, der den Fachtag vorbereitet hat, gesagt: Armut ist Sünde, etwas, was nach dem Willen Gottes nicht sein soll. Ich stimme dem zu.

Aber nun mal da ist.

Mühlen Ja, ich höre das häufiger von Betroffenen. Für sie ist es ein Skandal. Sie berichten mir, dass sie sich als Menschen dritter Klasse, also sehr stark ausgegrenzt fühlen. HINTZSCHE Das Wort Skandal ist mir zu stark. Das Thema ist enorm vielschichtig. Da gibt es den Selbstständigen, der mit einem "Start-up" zunächst sehr erfolgreich ist, in dieser Zeit aber wenig Vorsorge trifft. Dann kippt der Markt und die Geschäftsidee funktioniert nicht mehr. An die Vorsorge kann der Betroffene nun erst recht nicht mehr denken. Was ich sagen will: Jeder sollte so früh wie möglich an sein Alter denken und - so weit möglich - Vorsorge treffen.

Aber viele arbeiten ihr Leben lang und es reicht trotzdem nicht.

Hintzsche Das ist so. Frauen mit stark unterbrochenen Erwerbsbiografien oder Menschen, die stets am unteren Ende der Lohnskala gearbeitet haben. Oder Arbeitnehmer, die plötzlich erwerbsunfähig werden. Genau dafür haben wir die Grundsicherung. Dafür geben wir 60 Millionen Euro im Jahr aus, die uns der Bund erstattet.

Schauen wir auf Düsseldorf. Was kann vor Ort getan werden?

Mühlen Der Seniorenrat strebt an, dass aus dem Fachtag eine ständige Armutskonferenz und ein regelmäßiger Armutsbericht, verknüpft mit einem Reichtumsbericht, hervorgeht. Der bestehende Arbeitskreis des Seniorenrates, in dem bereits alle Wohlfahrtsverbände und viele karitative Einrichtungen vertreten sind, könnte dazu eine Plattform sein. Ergänzend könnten sich Gewerkschaften, das Jobcenter und Betroffene beteiligen.

Aber bringt das mehr als interessante Redebeiträge?

Mühlen Ich denke ja. Eine ständige Beschäftigung mit dem Thema schärft den Blick für konkrete Handlungsfelder.

Und die wären?

Mühlen Ich würde eine städtische Hotline, eine Art "Nummer gegen Armut", begrüßen. Sie sollte offen sein für alle Bürger, die einen Rat brauchen. Entweder für sich selbst oder für andere. HINTZSCHE Meine Sorge ist, dass wir damit zu hohe Erwartungen wecken, die wir nicht einlösen können. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Jemand hat ein Problem mit der Rentenversicherung. Oder ein anderer ist einsam, weil er den Tod des geliebten Partners noch nicht verarbeitet hat. Da wären wir letztlich die falschen Ansprechpartner.

Ein Teil der Düsseldorfer Altersarmut gründet im Thema Wohnen.

Hintzsche Das ist für viele der Dreh- und Angelpunkt. Derjenige, der in Duisburg mit seiner niedrigen Rente klar kommt, hat in Düsseldorf ein Problem, weil das Einkommen hier für die hohe Miete nicht reicht. MÜHLEN Sehr sinnvoll wäre, das Thema Wohnungstausch zu professionalisieren, beispielsweise eine Agentur dafür einzurichten. Junge Familien suchen händeringend eine größere Wohnung, Senioren wollen sich oft verkleinern. Das kann man zusammenbringen. HINTZSCHE Ja, oftmals würden Senioren sich gerne verkleinern. Allerdings sind in Düsseldorf oft kleine Wohnungen mit neuem Mietvertrag teurer, als die angestammte zu groß gewordene Wohnung nach altem Mietvertrag. Hierzu bietet unser Amt für Wohnungswesen eine zielgerichtete Beratung an. In Frage käme auch unser Programm "Wohnen auf Zeit", das zum Beispiel Senioren und Studierende "matcht". Das bedeutet: Einer bietet Wohnraum, der andere Hilfe im Alltag.

Ein weiteres Thema beim geplanten Fachtag ist die Alterseinsamkeit.

Mühlen Wir wollen gerne einen Impuls in die Stadtgesellschaft senden und das Modell der Nachbarschaftshelfer bekannt machen. Ein großes Problem ist die Sprachlosigkeit in vielen Häusern. Es fehlt häufig ein Dialog. Den könnte ein solcher Nachbarschaftshelfer koordinieren. Mein Wunsch wäre, dass eines Tages in einem Großteil der Düsseldorfer Mehrfamilienhäuser ein solcher Ansprechpartner existiert. HINTZSCHE Ganz entscheidend ist hier eine gute Quartiersarbeit. Mit den 31 städtisch geförderten Zentren plus haben wir eine gute Grundlage geschaffen. Eine große Rolle spielt darüber hinaus die Nahversorgung. Es ist wichtig, den Einzelhandel im Viertel zu halten.

Apropos Handel. Manche Organisationen helfen ärmeren Senioren mit Gutscheinen, die sie bei Lebensmittelketten einlösen können. Eine gute Idee?

Hintzsche Ja. Und ich bedauere, dass dabei nur bestimmte Discounter mitmachen. Institutionen wie die Bürgerstiftung Düsseldorf und die Gerricus-Stiftung, die solche oder ähnliche Projekte auf den Weg bringen, gebührt höchste Anerkennung. Sie bieten auch dort wertvolle Hilfe an, wo wir als Stadt an unsere Grenzen kommen.

(RP)
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