Antworten im Video Die Wahrheit über Smartphone-Kinder

Düsseldorf · "Suchtgefahr!" "Smartphones lassen Kinder verblöden!" "Handys machen depressiv!" So und anders warnen aktuelle Studien und Bestseller. Doch wie wichtig ist Kindern ihr Handy wirklich? Können sie sich ein Leben ohne Smartphone überhaupt noch vorstellen? Eine Umfrage in der 5. Klasse.

Am Montag schlägt eine weitere Internet-Studie Alarm: Nach den Daten der Krankenasse DAK sind mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche gefährdet, eine Internet- und Smartphone-Sucht zu entwickeln. Erhoben wurden die Daten durch Interviews mit Eltern. Aber was sagen die Kinder selbst? Wie reflektiert gehen diejenigen mit den Gefahren um, die gerade erst damit beginnen, das Internet zu nutzen?

Ortstermin in Düsseldorf-Vennhausen. Wir sind zu Besuch an der Georg-Schulhoff-Realschule, um mit Kindern über Smartphones zu reden. Zum Beispiel Nico. Er ist 11. Mit Handys kennt er sich aus. Sein erstes bekam er schon in der 2. Klasse, erinnert er sich. Aber das war nur ein Klapphandy ohne Internet. Sein aktuelles Modell kann weitaus mehr. Apps, Spiele, Internet. Es ist zweimal so groß wie seine Hand, dennoch bedient er die Tasten auf dem Display so schnell wie ein geübter Erwachsener. Mindestens. Nico ist damit keine Besonderheit. In seiner Klasse, der 5 c, haben alle ein Smartphone.

Die Schule hat sich für einen liberalen Umgang mit Handys entschieden. Das Prinzip: Das Thema früh und präventiv aufzugreifen, ist der beste Schutz. In den Pausen dürfen Schüler Handys verwenden, im Unterricht sind sie unerwünscht. Wer das nicht hinbekommt, muss sein Gerät abgeben. In anderen Schulen in NRW wird das weitaus strenger gehandhabt.

"Wir wollen den Schülern beibringen, verantwortungsvoll damit umzugehen”, sagen die Lehrer Sabrina Röggener und Anselm Vogt, die Kinder aus der 9. Klasse zu "Medienscouts" ausbilden. Deren Aufgabe ist es, Mitschülern einen reflektierten Umgang mit Handys zu vermitteln. Für eine "sichere, kreative, verantwortungsvolle und selbstbestimmte Mediennutzung”, wie es in der von der NRW-Landesanstalt für Medien entwickelten Zielsetzung für Medienscouts heißt.

So viel Freiheit für die Smartphone-Kids, das ist nicht selbstverständlich. Viele Eltern sind beunruhigt. Sie sehen, wie ihre Kinder gefühlt stundenlang auf ihre Displays starren, registrieren wie der Austausch in der Familie darunter leidet und fragen sich: Ist das der Anfang einer Suchtkarriere? Wächst da ein Smartphone-Zombie ("Smombie") heran?

Zu dieser Verunsicherung beigetragen haben auch mehrere Bestseller der vergangenen Jahre. "Payback” von Frank Schirrmacher warnte vor einem Verlust des eigenständigen Denkens. Der Neuro-Wissenschaftler Manfred Spitzer sorgte mit dem Buch "Digitale Demenz. Wir wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen” für Furore. Und der Bonner Informationswissenschaftler Alexander Markowetz warnt im jüngst erschienen Band "Digitaler Burnout”: "Wir machen unsere Kinder unglücklich und unproduktiv.”

Wie ernst ist die Lage wirklich? Wie sieht das Leben von Handy-Kindern im deutschen Alltag tatsächlich aus? Wir haben beim Besuch in der Realschule in Düsseldorf bei 10 bis 12-Jährigen nachgefragt. Wie viel Zeit sie vor dem Display hängen. Welche Rolle das Handy in ihrem Tagesablauf spielt. Und ob sie sich ein Leben ohne Smartphone überhaupt vorstellen können. Einen Teil der Antworten zeigt unser Video.

Insgesamt neun Schüler haben sich darauf eingelassen, mit uns zu sprechen. Erste Erkenntnis: Ihre Antworten könnten vielfältiger kaum sein. Zwar nutzen alle ein Handy und würden nur ungerne darauf verzichten. Doch offenbaren sich in der alltäglichen Nutzung große Unterschiede. Für einige ist das Gerät noch neu und ein bisschen fremd. Sie nutzen es sporadisch, etwa wenn sie sich mit ihren Eltern und Freunden abstimmen wollen. Für andere hingegen spielt es im Leben eine zentrale Rolle. Das Handy ist für sie unverzichtbarer Begleiter und dient als Bindeglied zur Außenwelt. Ein Leben ohne Smartphone - eigentlich nicht vorstellbar.

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Foto: gms

Noch stehen die Kinder der 5. Klasse erst am Anfang ihrer Handy-Karriere. Wie die sich entwickeln kann, hat der Informationswissenschaftler Alexander Markovetz mit handfesten Daten skizziert: Mit Hilfe einer App hat Markovetz das Nutzungsverhalten von 60.000 Handybesitzern auswerten können. Ergebnis: Alle 18 Minuten greift ein Erwachsener zum Smartphone. Jeden Tag beschäftigt er sich zusammengerechnet zweieinhalb Stunden damit.

Bei Jugendlichen von 14 bis 19 ist das Verhalten noch ausgeprägter. Fast 100mal täglich greifen sie nach dem Handy, die tägliche Nutzungsdauer beträgt drei Stunden. Auch eine von der LfM in Auftrag gegebene Studie warnte vor wenigen Wochen eindringlich vor Suchtgefahren. Die größten Sorgen machte den Forschern der etwa zehn Prozent große Anteil der "Heavy User", der das Handy "exzessiv" nutzt. Auch Markovetz hat eine solche Risikogruppe ausgemacht: 130mal am Tag greifen solche Kinder zum Smartphone, umgerechnet alle sieben Minuten.

Was tun also mit den Kindern einer 5. Klasse? Sie stehen erst am Anfang. Der Bestseller-Autor und Neurologe Manfred Spitzer gibt darauf eine ebenso klare wie radikale Antwort: Wegnehmen! Erst ab dem Alter von 16 seien Jugendliche in der Lage, verantwortungsvoll mit digitalen Medien umzugehen.

Die Medienpädagogen der Landesanstalt für Medien (LfM) in Düsseldorf halten das für weltfremd. Sie wissen: Im Jahr 2015 besitzen die allermeisten Kinder spätestens mit dem Wechsel in die weiterführende Schule ein Handy. "Erkennen Sie die wichtige soziale Funktion des Handys an!”, heißt es in einer Broschüre für Eltern, die sich mit den Gefahren der Handysucht befasst.

Kategorische Verbote, davon sind die Medienpädagogen überzeugt, bringen nichts. Im Gegenteil: Sie können ein Kind zum Außenseiter machen, denn auch ihnen dient das Smartphone in erster Linie als Kommunikationszentrale, um sich zu verabreden und auszutauschen. "Wenn alle eins haben, nur das eigene Kind nicht, dann wird es ausgegrenzt”, warnt LfM-Sprecher Peter Widlok. "Die Frage, ab welchem Alter Kinder Smartphones nutzen sollen, hängt unseres Erachtens ganz stark von der Medienkompetenz des einzelnen Kindes ab." Um eben diese Kompetenzen zu fördern, empfiehlt er Eltern, mit ihren Kindern klare Regeln für den Umgang mit den Smartphones zu vereinbaren, zum Beispiel feste Zeiten für eine smartphonefreie Zeit. Ebenso wichtig: Immer im Gespräch bleiben, auch über die Risiken der digitalen Verlockungen.

Verlockungen, aber auch die Bedeutung des Smartphones als soziale Schnittstelle werden in den Interviews an der Realschule in Düsseldorf- Gerresheim überaus deutlich. Die mit Abstand wichtigste App auf den Handys der Kinder ist Whatsapp. Es gibt eine Klassengruppe, hier werden Hausaufgaben weitergereicht und Verabredungen getroffen. Wer hier nicht dabei sein kann, sieht alt aus. Auch der Kontakt zu den Eltern spielt noch eine große Rolle. "Ohne Handy würde ich mich unsicher fühlen, weil ich sie dann nicht anrufen könnte”, sagt Franziska (10).

Einigen anderen Mädchen, mit denen wir sprechen, sind schon tiefer in die Welt eingetaucht, die sich über das Smartphone erschließen lässt. Kira zum Beispiel. Sie weiß genau, wie viele Kontakte sie bei Whatsapp hat. Zudem ist sie auf dem Fotoportal Instagram unterwegs. Mehr als 300 andere Nutzer folgen ihr dort. Auf den Bildern, die sie veröffentlicht, zeigt sie sich Freunden, dokumentiert Orte und Dinge, die sie schön findet und bekommt darauf Feedback. Resonanz ist ihr wichtig. Das Handy dient der sozialen Selbstverortung. "Mein Handy ist mir sehr, sehr wichtig”, sagt sie.

Vorstufe einer Smartphone-Sucht? Ein solches Urteil übersähe eine weitere Auffälligkeit der Aussagen aus der 5c: Ausnahmslos alle Kinder sprechen erstaunlich reflektiert über ihren Umgang mit dem Smartphone. Whatsapp-Gruppen blockieren sie, wenn sie das Dauerfeuer an Mitteilungen stresst, einige legen das Telefon während der Hausaufgaben lieber außer Hör- und Reichweite. Nico findet es ok, dass er und seine Mitschüler in den Pausen das Handy nutzen dürfen. Meistens hat er dafür aber gar keine Zeit. "Ich gehe lieber Fußball spielen."

Die Medienscout-Lehrer dürften an solchen Schülern ihre helle Freude haben.

(pst ham bis)
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