Serie Düsseldorfer Geschichten Die erste Abschiebung

Düsseldorf · 1841 sorgte die Übersiedlung der armen Tagelöhnerfamilie Schramm von Gerresheim nach Eller für große Aufregung.

 Dieser Stich zeigt einen Blick auf Gerresheim im 19. Jahrhundert.

Dieser Stich zeigt einen Blick auf Gerresheim im 19. Jahrhundert.

Foto: archiv brzosa

Wer glaubt, Angst vor unkontrollierter Einwanderung in soziale Sicherungssysteme sei ein neuartiger Reflex, der lasse sich im Hildener Stadtarchiv die Akte I-72 "Acta betr. die Niederlassung der Familie Schramm aus Gerresheim in Eller" vorlegen. Hier ist auf 75 Blatt die 1841 behördlich angeordnete Rückführung einer fünfköpfigen Tagelöhnerfamilie von Eller nach Gerresheim als erste bekannte Abschiebung von Armutszuwanderern im Gebiet der heutigen Landeshauptstadt Düsseldorf dokumentiert.

Warum Tillmann und Elisabeth Schramm mit ihren drei Kindern von Gerresheim nach Eller übersiedelten und hier am 1. Mai 1840 eine Wohnung auf dem Brandshof am Kamper Weg bezogen, ist nicht überliefert. Bekannt ist jedoch, dass die Neuzugezogenen in Eller von Beginn an unter strenger Beobachtung standen. Nach einem Bericht des Ortsvorstehers Peter Richarz hatte der Lebenswandel der Familie hier schnell viel Misstrauen hervorgerufen. Tillmann Schramm zahlte keine Steuern. Er konnte das Schulgeld nicht aufbringen, seine Kinder blieben unentschuldigt dem Unterricht fern. Pfändbares Mobiliar zur Begleichung von Bußgeldern war in der Wohnung nicht vorhanden. Gegen seine Ehefrau Elisabeth lief ein Strafverfahren wegen "Prellerey". Eine zweimonatige Zuchthausstrafe wurde wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes vorübergehend ausgesetzt. Die Wohnung am Kamper Weg galt als Treffpunkt und Unterschlupf für "vagabundierendes Gesindel". Den größten Unmut aber hatte Schramm dadurch erregt, dass er keiner Arbeit nachging und seine Familie nicht selbst unterhalten konnte. Um seine bettlägerige Frau und seine Kinder vor dem Verhungern zu bewahren, war die Armenverwaltung der Gemeinde Eller gezwungen, die Familie wöchentlich zu unterstützen. Genau dies wollte die kleine Landgemeinde, die knapp 1000 Einwohner zählte und zu den einkommensschwächsten Kommunen im Landkreis Düsseldorf gehörte, auf Dauer nicht hinnehmen.

Mit Hinweis darauf, dass Schramm "ohne Legitimation" und "bettelarm" von Gerresheim nach Eller eingewandert war, erwirkten die Eller Gemeindeverordneten beim Düsseldorfer Landrat zu Beginn des Jahres 1841 eine Verfügung, die Familie an ihren früheren Wohnort zurückzuführen. Als die Anordnung in Gerresheim die Runde machte, wurde hier sofort alles in Bewegung gesetzt, die Rückkehr der Familie Schramm zu verhindern. Um Zeit zu gewinnen, ersuchte der Gerresheimer Bürgermeister Hermann Leven die Eller Nachbargemeinde mit der Ausführung der Verfügung einige Monate zu warten, da "in gegenwärtiger Winterzeit hier kein Obdach für die besagte Familie zu ermitteln ist". Hierauf ging Eller jedoch nicht ein. Gleichwohl verzögerte sich die Rückführung, da Elisabeth Schramm noch ans Bett gefesselt war. Erst als der Benrather Armenarzt Alexander Laurent am 26. Februar 1841 bescheinigte, die Patientin sei soweit genesen, "daß dieselbe bey nicht ungünstiger Witterung per Fuhre ohne Nachtheil bis nach Gerresheim transportiert werden kann", lief die Rückführung an. Am 28. Februar suchte der Eller Polizeidiener Josef Schäfer den Gerresheimer Bürgermeister auf und kündigte für den nächsten Tag die Überführung der Familie Schramm an. Bürgermeister Leven reagierte gereizt. Die Rückführung entbehre jeder Rechtsgrundlage. Schramm sei aus freien Stücken nach Eller gezogen. Die Verarmung der Familie sei erst in Eller erfolgt. Unbeeindruckt von diesen Vorhaltungen führte der Sergeant tags darauf die unerwünschten Einwanderer vom Kamper Weg zu ihrem "gesetzlich angewiesenen Wohnort Gerresheim" per Krüppelfuhre zurück. "Krüppelfuhre" war damals die gebräuchliche Bezeichnung für Transporte, mit denen unliebsame Personen wie Seuchenkranke, Bettler und Obdachlose unter Polizeiaufsicht aus der Gemeinde gebracht wurden.

Eigentlich war der Eller Polizeidiener beauftragt, die abgeschobene Familie dem Gerresheimer Bürgermeister "zur weiteren Veranlassung und Unterbringung zu übergeben". Hierzu kam es aber nicht. Als die Krüppelfuhre am Wirtshaus "Im Rosenbaum" (Kölner Tor) vorbeifuhr, schrie Leven lauthals aus dem Fenster: "Ich nehme die Familie Schramm nicht auf, machen sie sich nur gleich wieder damit fort, sonst werde ich sie arretieren lassen". Ohne sich einschüchtern zu lassen, setzte der Polizeidiener seine Fahrt bis zum Gasthof von Adolph Lingmann fort und brachte Tillmann Schramm und seine Familie hier vorläufig unter. Für Kost und Logis hinterlegte Schäfer im Auftrag der Eller Armenverwaltung eine Vorauszahlung von 10 Talern. In diesem Augenblick erschien der Gerresheimer Bürgermeister in Begleitung mehrerer Gemeinderäte und untersagte dem Wirt nachdrücklich, die Familie aufzunehmen. Sogleich kam es zu einem lauten Wortgefecht. Der Polizeidiener betonte im "Höheren Auftrag" zu handeln; "mit aufgeregtem Gemüt" entgegnete der Bürgermeister: "Der Landrat hat mir in der Form nichts zu befehlen". Leven wurde immer heftiger und redete sich in Rage, "so daß ein ganzer Auflauf von Leuten entstand" und "grobe und unanständige Ausdrücke" fielen. Nur mit größter Mühe konnte sich Schäfer einen Weg durch die aufgeheizte Menschenmasse bahnen, "welche sich in Folge des von dem Herrn Bürgermeister verursachten Skandals zusammengerottet hatte", und unter Zurücklassung der Familie Schramm den Rückweg nach Eller antreten. Drei Tage später fuhr der Eller Ortsvorsteher Richarz nach Gerresheim, um sich vor Ort selbst ein Bild vom Gesundheitszustand und der Pflege der Familie Schramm zu machen. Richarz erachtete die Pflege als "befriedigend", merkte aber kritisch an, dass Lingmann mit einem Tagessatz von einem Taler viel zu hohe Aufwendungen geltend machte.

Mit der Rückführung und vorläufigen Unterbringung in einem Gasthof glaubten die Eller Gemeindeverantwortlichen sich der Problemfamilie Schramm entledigt zu haben. Doch dies war ein Trugschluss. Die Bürgermeisterei Gerresheim verklagte die Eller Armenverwaltung vor dem Düsseldorfer Landgericht zur Erstattung aller für den Unterhalt der Familie Schramm geleisteten und noch zu leistenden Ausgaben. Am 30. März 1842 fiel das Urteil. Unter dem Hinweis, dass im Königreich Preußen jeder Bürger in der Wahl seines Wohnortes frei und die Rückführung deshalb zu unrecht erfolgt sei, wurde Eller verurteilt, für alle Unterhaltskosten der Familie einzustehen. Justizrat Ludwig Kramer, der die unterlegene Gemeinde Eller vor Gericht vertreten hatte, kommentierte das Urteil mit dem Bemerken, "daß jeder Arme berechtigt sei, überall nach freier Willkür sich ein Domizil zu erwählen; durch diese Wahl bürde er der Gemeinde die Last seiner Verpflegung auch wider ihren Willen auf. Bei solchen Grundsätzen kann durch ein Korps Bettler eine Gemeinde ruiniert werden".

Epilog: Wie lange Eller für den Unterhalt der Familie Schramm aufzukommen hatte, ist nicht überliefert. Eller wurde jedenfalls nicht ruiniert. Heute, 175 Jahre nach dem Fall Schramm, hat sich Eller bei der Aufnahme und Betreuung von in Not geratenen Zuwanderern wesentlich entgegenkommender und hilfsbereiter gezeigt.

Der Autor Ulrich Brzosa (53) forscht und publiziert zur Düsseldorfer Kirchen- und Sozialgeschichte. In mehreren Büchern hat er die Geschichte seines Heimatstadtteils Eller detail- und bildreich dargestellt.

(RP)
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