Düsseldorfer Obdachloser erzählt seine Geschichte Der Mann im Dunkeln

Düsseldorf · Viereinhalb Jahre hat Jörg Gerhartz als Obdachloser in einem stillgelegten Bahntunnel in Düsseldorf gelebt und ihn nur selten verlassen. Nun ist er dabei, sein Leben zu ändern. Das ist seine ganze Geschichte.

 "Ein vorbildlicher Hund": Jörg Gerhartz hat das Leben im Tunnel hinter sich gelassen. Heute engagiert er sich für Geflüchtete und hat sogar ein Handy.

"Ein vorbildlicher Hund": Jörg Gerhartz hat das Leben im Tunnel hinter sich gelassen. Heute engagiert er sich für Geflüchtete und hat sogar ein Handy.

Foto: Andreas Bretz

Die Dunkelheit kommt schneller als erwartet. Gerade mal zehn Meter vom Tunneleingang sieht man kaum noch die Hand vor Augen. Ein Zug rattert vorbei. Dann herrscht Stille. Nichts regt sich.

Jörg Gerhartz hat gelernt, sich unsichtbar zu machen. Viereinhalb Jahre ist er schon in dem stillgelegten Tunnel unter dem Wehrhahn. Gerhartz hat ein schmales, fein geschnittenes Gesicht. Die schulterlangen Haare trägt er zum Zopf gebunden. Beim Sprechen schaut er einem direkt in die Augen. Lange Zeit hat er kaum Kontakt mit Menschen gehabt. Ob er sich vorstellen könne, seine Geschichte zu erzählen? Er antwortet überlegt: "Grundsätzlich schon." Seine Stimme ist höher als erwartet, sein Gesicht nicht zu erkennen.

12 Jahre Obdachlos. Warum?

Es ist August 2016, draußen scheint die Sonne. Hier unten ist das egal. Es ist kühl. Kühl und feucht. Vor dem Tunnel blüht der Flieder. In Berlin würde man hier eine Sommerbar eröffnen. In Düsseldorf hat Gerhartz eine orangefarbene Liege aufgestellt, "vom Sperrmüll". Er ist 50 Jahre alt. Zwölf davon war er obdachlos. Wie konnte das passieren?

Das Leben von Jörg Gerhartz geht nicht gut los. Bereits bei seiner Geburt ist die Mutter krank. Unterleibskrebs. Als sie stirbt, ist der Sohn sieben. Der Vater, nunmehr allein verantwortlich für drei Kinder, ein "hochgradiger Säufer". Im Alter von 13 Jahren ist Gerhartz Vollwaise. "Andere werden mit einem goldenen Löffel im Mund geboren", sagt er. "Bei mir war es eine rostige Gabel." Er tingelt durch unterschiedliche Pflegefamilien. Mal schläft er im Heizungskeller, mal unter der Kellertreppe. Mal bekommt er "eine gewatscht, obwohl ich gar nichts gemacht hatte". Er zuckt die Schultern. Mit Ach und Krach schafft er den Hauptschulabschluss.

Was er mit seinem Leben anfangen soll? Er hat keine Ahnung. "Ich denke, dass ich den Großteil meines Lebens dadurch versaut habe, dass ich nicht meinen Weg gegangen bin. Weil ich keinen Weg hatte", sagt er heute. Mit 19, nach einer abgebrochenen Lehre als Dreher, landet er zum ersten Mal auf der Straße. Die Folgejahre sind ein einziges Auf und Ab. Nach Stationen in Köln, Bonn, Dortmund und Bochum kommt er nach Düsseldorf. Er ist mit dem Fahrrad unterwegs. Ein konkretes Ziel hat er nicht.

Es ist ein schöner Sommertag, als er einen Zwischenstopp an der Oberkasseler Brücke einlegt. Ein guter Platz, wie sich schnell herausstellt. Täglich finden am Rheinstrand zahllose Grill-Partys statt. "Es war immer genug Fleisch da", erinnert sich Gerhartz. Und reichlich Pfandflaschen, die er in den nahen Supermärkten abgeben kann. Er bleibt fast ein Jahr am Strand.

Morgens kauft er bei Hinkel drei Brötchen, Kaffee, Eier und Käse: "Dann habe ich bei Sonnenaufgang am Schwanenspiegel gefrühstückt." Aber Obdachlosigkeit ist nicht die große Freiheit, "für mich jedenfalls nicht", sagt Gerhartz. Seine Glückssträhne reißt. Er fliegt aus der Kurve. Wieder einmal. In dieser Situation findet er den Tunnel. "Ich habe ihn von der Brücke aus gesehen und dann den Zugang gesucht."

Jahre in der Dunkelheit des Tunnels

Es geht ihm nicht gut zu der Zeit. Hilfsangebote wie Hartz 4, Notschlafstellen oder Essen in der Armenküche - lehnt er ab. Mit der Gesellschaft glaubt er abgeschlossen zu haben. Die kommenden Jahre verbringt er in vollständiger Dunkelheit und absoluter Einsamkeit, die meiste Zeit im Schlafsack. Er schläft viel, oder döst und hängt schweren Gedanken nach. Was habe ich falsch gemacht? Was könnte ich besser machen? Wie viel Mitschuld trage ich an meinem Schicksal? Sein Nachtlager: ein Podest neben den Gleisen, in einem Tunnelbogen. Um ihn herum ein paar Tüten, Kleidung, die er im Müll gefunden hat, ein Campingkocher.

Für ein paar Tage suchen zwei Junkies Unterschlupf direkt neben seinem Lager. Sie verrichten ihre Notdurft im Tunnel. "Schmerzfrei", findet Gerhartz ihr Verhalten, und "unerträglich". Er selber erleichtert sich draußen zwischen den Fliederbüschen, nicht ohne die Spuren zu beseitigen. "Ich bin ein vorbildlicher Hund", sagt er und lacht. Ansonsten verlässt er den Tunnel unter dem Wehrhahn nur, wenn es gar nicht anders geht. Ab und zu sucht er eine Obdachloseneinrichtung auf, um zu duschen. Ein-, zweimal pro Woche geht er Flaschen sammeln. Von dem Geld, weniger als 100 Euro im Monat, kauft er Toastbrot, Käse und Wurst. Der Campingkocher kommt kaum noch zum Einsatz. Nur selten kocht er im Schein der Taschenlampe, die er sich an den Kopf bindet, damit er die Hände frei hat, einen Kaffee. "Zu der Zeit wog ich gerade mal 48 Kilo", sagt er.

Leben oder Überleben? Ende 2015, Gerhartz ist bereits vier Jahre im Dunkeln, bekommt er Besuch. Christof Seeger-Zurmühlen und Bojan Vuletic suchen für eine Theaterproduktion im Rahmen des von ihnen initiierten "Asphalt Festivals" einen ungewöhnlichen Veranstaltungsort. Der Tunnel scheint ihnen gleich geeignet. In den folgenden Wochen kommen sie immer wieder in den Untergrund. Sie erzählen Gerhartz von ihrem Projekt. Er erzählt ihnen von seinem Leben.

Obdachloser auf der Theaterbühne

Irgendwann fragen sie, ob er nicht in dem Stück mitwirken wolle. Ein Obdachloser als Schauspieler? Er kann es sich zunächst nicht vorstellen. Aber er mag die Theaterleute, nicht zuletzt, weil sie ihm auf Augenhöhe begegnen. Gerhartz beginnt zu proben. Im Juli 2016 wird es in dem Tunnel dann ungewöhnlich hell. Die Theaterleute bauen Scheinwerfer auf. Gerhartz ist plötzlich nicht mehr der im Dunkeln, sondern der im Licht. Im Stück "Düsseldorf Sous-Terrain" spielt er in sieben Vorstellungen sich selbst, beantwortet Fragen zu seinem Schicksal, seinem Leben.

November 2016: Alles ist anders geworden. Oder besser: Es ist dabei, anders zu werden. Am Tunneleingang ist der Flieder längst verblüht. Der Himmel hängt tief. Die Luft riecht nach Winter. Gerhartz ist zurückgekommen, um letzte Sachen abzuholen. Zu spät. Sackkarre und Campingkocher haben sich bereits seine "Nachmieter" unter den Nagel gerissen. Eine Gruppe von Rumänen hat in dem Tunnel notdürftige Hütten errichtet. Aus Brettern, Decken und Planen.

Jörg Gerhartz lebt mittlerweile in einer Notunterkunft an der Harkortstraße. Die Theaterleute haben ihm ein Fahrrad geschenkt. Und ein Handy. "Ohne Handy ist man ja heutzutage kein Mensch", sagt er. Einmal pro Woche engagiert er sich ehrenamtlich im "Café Eden", einem Begegnungsort für Geflüchtete und Bürger der Stadt im Jungen Schauspielhaus. Die Geschichten, die er dort zu hören bekommt, haben ihn sehr berührt. So sehr, dass er sein Engagement gerne ausbauen würde. Er hat Hartz 4 beantragt, eine Putzstelle angenommen. Und er hat sich neue, rote Schuhe gekauft. Die Zeit der absoluten Dunkelheit scheint vorbei.

Kontakt Jörg Gerhartz sucht eine Wohnung. Angebote an joerggerhartz@web.de oder 0178 6811051.

(RP)
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