Ständehaus-Treff "Nach dem Brexit kühlen Kopf bewahren"

Düsseldorf · Grünen-Chef Cem Özdemir warnt beim Ständehaus-Treff in Düsseldorf am Montagabend vor einer Ansteckungsgefahr für ganz Europa.

Fotos vom Ständehaus-Treff mit Cem Özdemir
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Foto: Endermann, Andreas

Was es heißt, aus einem Land zu kommen, das nicht zur Europäischen Union gehört, weiß Cem Özdemir aus eigener Erfahrung. Als seine Realschulklasse einst auf dem Weg nach Großbritannien war, konnte er beinahe nicht mitfahren. Anders als seine Mitschüler durfte er als Türke nicht einfach durch andere europäische Länder reisen. Nur, weil seine Lehrerin die Grenzbeamten überreden konnte, kam er damals schließlich in Großbritannien an.

Über 500 Gäste sind an diesem Montagabend zum traditionsreichen Ständehaus-Treff gekommen, um zu hören, was der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, zu sagen hat — darunter die stellvertretende Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann (Grüne), Landtagspräsidentin Carina Gödecke und der frühere Bundesinnenminister Otto Schily (beide SPD), NRW-Grünen-Parteichefin Mona Neubaur und NRW-Umweltminister Johannes Remmel (Grüne).

Die Diskussion kam schnell auf das politische Thema Nummer eins: Großbritannien, die EU und der Brexit. "Wir müssen jetzt kühlen Kopf bewahren. Bei aller Kritik an der Kanzlerin ist es richtig, dass wir jetzt vorsichtig agieren", sagte Özdemir. Es dürfe nicht der Eindruck eines deutschen Europa entstehen. Genauso wichtig sei es, zu dokumentieren, dass Europa zusammenhalte. "Wir müssen dafür sorgen, dass es keine Ansteckungsgefahr gibt", sagte Özdemir im Gespräch mit dem Chefredakteur der Rheinischen Post, Michael Bröcker.

Auch Kritik an Cameron

Er habe den Eindruck, dass der größte Schock über die Abstimmung bei den britischen Befürwortern des Ausstiegs entstanden sei. Premierminister David Cameron habe von Montag bis Samstag davon gesprochen, wie "blöd" die EU sei. Am Sonntag aber habe er gesagt, Großbritannien müsse doch dabei bleiben. Dabei sei mal eben ein Generationenprojekt verloren gegangen — mit unabsehbaren Folgen. "Wenn etwa auch noch in Frankreich Marine LePen die Präsidentenwahl gewinnen sollte, "dann war es das mit der EU", so Özdemir. Wichtig sei, die Jugend in Großbritannien nun nicht für das Abstimmungsverhalten zu bestrafen und Wege zu finden, wie sie weiter nach Kontinentaleuropa kommen könne.

Das Referendum habe aber auch deutlich gemacht, dass die EU nun entschlossen reformiert werden müsse. Das Friedensversprechen der EU reiche den Bürgern heute offenbar nicht mehr aus: "Die Menschen fragen sich: ‘wie sieht es mit Jobs und Wohlstand aus?'" Die nationalen Parlamente müssten stärkere Mitsprache bekommen. Wäre dies früher geschehen, so der Grüne, hätte man auch bessere Argumente gegen den Brexit gehabt. Er könne sich etwa, dem Bundesrat vergleichbar, mehr Mitsprache der einzelnen Staaten in Brüssel und Strassburg vorstellen. Zudem müssten die Deutschen den Franzosen entgegenkommen und sich darauf einlassen, einen europäischen Finanzminister zu installieren.

Der Grünen-Chef ist in diesen Tagen auch deshalb ein besonders gefragter Gesprächspartner, weil er als erster Bundestagsabgeordneter mit türkischen Wurzeln genau weiß, wovon er redet, wenn es um das Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union geht. Man dürfe auch nicht vergessen, dass die Türkei so viele Flüchtlinge aufgenommen habe wie kein anderes Land. Doch das entlasse die Bundesregierung nicht aus der Pflicht auch auf die Einhaltung der Menschenrechte zu pochen: "Wenn die Kanzlerin ins Ausland reist, erwarte ich, dass die Werte unseres Landes mitreisen", sagte er.

"Säkularer Muslim"

Özdemirs Vater stammt aus der türkischen Kleinstadt Pazar und ist Angehöriger der tscherkessischen Minderheit. Als Gastarbeiter kam er 1961 nach Deutschland. Özdemirs Mutter, ursprünglich Lehrerin, betrieb in Schwaben eine Änderungsschneiderei. "Ich bin deutscher Staatsbürger türkischer Herkunft", sagt er.

Wie schwierig es derzeit ist, türkischstämmiger Bundestagsabgeordneter zu sein, hat Özdemir in den vergangenen Tagen erfahren. Seitdem der Bundestag auch auf sein Betreiben hin den türkischen Massenmord an Armeniern während des Ersten Weltkrieges in einer Resolution als Völkermord bezeichnete, ist Özdemir Morddrohungen rechtsextremer Türken ausgesetzt. Seither steht er unter Polizeischutz.

Sich selbst bezeichnet Özdemir als "säkularen Muslim". Zuhause lebt der 50-Jährige Multikulti: Er ist mit der aus Argentinien stammenden Journalistin Pia Maria Castro verheiratet, das Paar hat zwei Kinder. Wozu das während Fußball-Meisterschaften führen kann? Sein Sohn trage die Fußball-Shorts der deutschen Nationalmannschaft —und das Trikot der argentinischen.

(RP)
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