Düsseldorf Begegnung mit dem Lebensretter

Düsseldorf · Bety Nguyen war vier Jahre alt, als ihre Eltern mit ihr und ihrem kleinen Bruder per Boot aus Vietnam flohen. Sie wurden gerettet - von der Cap Anamur. Das Schiff des Rupert Neudeck, den sie zum ersten Mal in Düsseldorf getroffen hat.

 Im Wirtschaftsclub haben Bety Nguyen und Rupert Neudeck erstmals miteinander gesprochen.

Im Wirtschaftsclub haben Bety Nguyen und Rupert Neudeck erstmals miteinander gesprochen.

Foto: Bernd Schaller

Um diese Geschichte erzählen zu können, müssen wir 35 Jahre zurückgehen.

Irgendwann im Jahr 1980 beschließt ein verzweifelter Lehrer in der süd-vietnamesischen Stadt Saigon zu fliehen. Er weiß, als Regimegegner sind er und seine Familie in dem seit Kriegsende kommunistischen Land nicht sicher, es drohen Drangsalierung, Haft, Folter, womöglich der Tod. Die ganze Familie Nguyen versetzt ihr Habe, kauft ein Boot und man sticht in See - keiner an Bord hat Ahnung von Navigation und Seefahrt. Am Steuer sitzt der junge Lehrer selbst. Er hat nicht nur mehrere Familienmitglieder, sondern vor allem seine Frau, seinen Sohn (2) und seine Tochter Bety (4) dabei. Nach Tagen ist das Trinkwasser verbraucht, die Hoffnung schwindet. Aber da taucht am Horizont ein Schiff auf. Es ist nicht von der gefürchteten Marine, es sind keine Piraten, sondern die deutsche Cap Anamur der privaten Initiative "Ein Schiff für Vietnam" des Journalisten Rupert Neudeck. Seit Ende der 70er Jahre kreuzt sie im chinesischen Meer, liest Tausende Menschen auf, die man wenig später in den Medien der Welt Boat-People nennen wird. In allergrößter Not versuchen diese Süd-Vietnamesen übers Meer zu entkommen, bis heute weiß niemand, wie viele dabei ertrunken sind.

Die Familie des Lehrers kommt zuerst nach Singapur, dann nach Deutschland. Dort wachsen Bety und ihr Bruder auf. Das Mädchen macht Abitur in Bayern, studiert, lernt in Frankfurt einen jungen Deutschen kennen, heiratet ihn, geht mit ihm nach Bonn. Sie liest Fontane und das Tagebuch der Anne Frank, lernt deutsche Küche - Lieblingsgericht: Schweinebraten mit Knödel - schätzen, arbeitet als Aushilfe für ein bekanntes Modelabel, dort macht sie Karriere. Heute hat sie eine führende Position in dieser Düsseldorfer Firma, ist 39 Jahre alt - und trifft erstmals ihren Lebensretter von damals. Denn Rupert Neudeck (76) hält einen Vortrag im Wirtschaftsclub in den Schadow Arkaden. Und weil die RP Bety für ein Porträt interviewen will, fragen wir sie, ob sie Neudeck treffen will.

Die Reaktion: Der im Gespräch so toughen jungen Frau verschlägt es die Sprache, Tränen stehen in ihren Augen. "Ihn zu treffen ist mein größter Wunsch. Für uns ist er das, was Oskar Schindler für die Juden ist!" sagt sie. Mit der jüngeren Historie der Deutschen kennt sie sich aus. Sie hatte im Abitur Geschichte als Leistungskurs, und ihr Spezialgebiet war die Machtergreifung durch die Nazis und der folgende Mord an sechs Millionen Juden. Schindler rettete als deutscher Industrieller mit Tricks tausende Juden - für die Vietnamesen tat dies Rupert Neudeck.

Die Frage, wie viele Boat-People aus dem Meer gefischt wurden, beantwort Neudeck sehr präzise: 11.340. Eine davon war Bety. Nun treffen sich die beiden - und nach wenigen Sekunden umarmt der hagere, kleine Mann mit dem markanten weißen Bart die junge Frau, als sie vor ihm in Tränen ausbricht und sichtlich aufgewühlt versucht, ihren und den Dank ihrer Familie auszudrücken. Dies im Foyer des feinen Clubs - und ein paar daneben stehende andere Gäste verstummen, keiner ist nicht gefangen von dieser Szene, manche zu Tränen gerührt. Was empfindet Neudeck? "Unbändige Freude über das, was ich tun konnte!" sagt der bescheiden auftretende Mann, der zusammen mit seinen Freunden, der Besatzung des Schiffes und vor allem mit Hilfe der deutschen Bevölkerung so viele Menschenleben rettete.

Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll habe sich damals für die Initiative und das Schiff stark gemacht, und die Deutschen hätten viel Geld gespendet. Neudeck: "Als wir anfingen, hatten wir Kapital für drei Monate. Aber es kamen immer mehr Spenden." Hilfe von offizieller Seite gab es anfangs nicht, bis auf eine Ausnahme: Ernst Albrecht (der Vater der heutigen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen) war seinerzeit Ministerpräsident in Niedersachsen und entdeckte eine Lücke im Gesetz, die es ihm möglich machte, 1000 Flüchtlinge nach Hannover kommen zu lassen.

Die Parallelen zur heutigen Situation seien eindeutig. Auch damals, so Neudeck, habe es erhebliche Bedenken gegeben und Anfeindungen, allerdings eher aus der extremen linken Ecke. Denn dort hatte man, kurz nach der 68er-Bewegung, immer noch Sympathien für den kommunistischen Norden Vietnams, der die USA besiegt hatte. Die Flüchtlinge aus dem Süden galten einigen als Vertreter eines verhassten Regimes.

(RP)
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