Dinslaken Schicksal jüdischer Kinder aufgearbeitet

Dinslaken · Im neuen Buch von Anne Prior geht es um die Jungen und Mädchen aus dem jüdischen Waisenhaus in Dinslaken.

Dinslaken: Schicksal jüdischer Kinder aufgearbeitet
Foto: Heiko Kempken

Mit deutlichen Worten drückte stellvertretender Bürgermeister Thomas Groß gestern der Arbeit von Anne Prior seine Anerkennung aus: "Sie trägt mit ihrer Forschung dazu bei, die Stadtgeschichte Dinslakens zu komplettieren." Nach akribischer Recherchearbeit dokumentiert die Vorsitzende des Vereins Stolpersteine für Dinslaken in ihrem neuen, im Klartext Verlag erschienenen Buch "Geben Sie diese Kinder nicht auf!", umfassende Erkenntnisse zum Schicksal der Kinder des jüdischen Waisenhauses in Dinslaken nach dem November 1938.

Gestern wurde das Buch in der Thalia-Buchhandlung an der Neustraße, nur wenige Meter von dem ehemaligen Standort des Waisenhauses entfernt, vorgestellt. In ihrem Buch zeichnet Anne Prior das Schicksal von 35 Mädchen und Jungen des ersten Kindertransportes nach Belgien nach. Für 19 von ihnen war es die erste Station einer Flucht in ein neues Leben nach dem Krieg, 16 von ihnen fielen den Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs in die Hände und wurden in den Vernichtungslagern im Osten ermordet. "Geben Sie diese Kinder nicht auf!" ist das jüngste Buch, das Dinslakener Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 aufarbeitet.

Anne Prior stieß auf das Thema der Kindertransporte, als sie für das Projekt Stolpersteine von Gunter Demnig in den Archiven des Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen recherchierte. Ausgangspunkt war das jüdische Waisenhaus an der Neustraße 43, einem von nur zwei solcher Einrichtungen im Rheinland und dessen Verwüstung im Pogrom vom 9. November 1938. Dass dies der Beginn einer Flucht der Waisenkinder bis nach Frankreich war, war bekannt.

Neu und in dieser Art erstmalig in einem deutschsprachigen Buch aufgearbeitet, ist die Darstellung, wie diese Flucht organisiert war. Jüdische Hilfseinrichtungen organisierten nach 1938 vier mit den belgischen Behörden abgestimmte Ausreisen von insgesamt 1000 jüdischen Kindern in das zu dieser Zeit noch sicher erscheinende Nachbarland. Solche so genannten Kindertransporte gab es auch nach Großbritannien. Anne Priors Buch liefert neue Erkenntnisse über die Familie Rothschild und ihre Verdienste um das Waisenhaus und dessen Kinder nach dem Pogrom. "Ich habe das Buch für die Kinder geschrieben", sagte sie gestern. "Sie stehen für sich und für nichts anderes."

So wichtig wie das Erinnern ist, so hoch man die detaillierte Recherchearbeit anerkennen muss, mit der Anne Prior den Verfolgten und Ermordeten des Nationalsozialmus mit vielen bislang unbekannten Fotos ein Gesicht gibt, wichtig wird Geschichte, wenn sie eine Bedeutung für die Gegenwart erhält. Und hier wird die Aussage in den Kapiteln des Buches unmissverständlich, die sich auf die Jahre zwischen 1938 und 1942 beziehen. Wohl kein einziges der Kinder hätte diese Zeit überlebt, hätten sich nicht andere Menschen für sie eingesetzt.

"Geben Sie diese Kinder nicht auf!", heißt es in einem Brief der Präsidentin des Comité d'Assistance aux Enfants juifs réfugiés an das American Joint Distribution Comitee. Die Kinder wurden nicht aufgegeben. Nicht von Netzwerken jüdischer Einrichtungen, nicht von zahlreichen Privatleuten, darunter auch christliche Familien, die Kinder zu Hause bei sich aufnahmen. Nicht von einzelnen, herausragenden Persönlichkeiten wie der Schweizer Kinderkrankenschwester Rösli Näf, die mit dem Mut der Verzweiflung Jugendliche eigenhändig aus dem Internierungslager Le Vernet herausholte.

Aber es gibt auch die Kehrseite. Und diese offenbart sich, blickt man auf die Kinder und Jugendlichen, die nicht überlebten. Ihre Schicksale wurden dort besiegelt, wo Grenzen geschlossen, Flüchtlinge zurückgeschickt wurden oder sie auch freiwillig zu ihren Familien in das Krisengebiet Deutschland zurückkehrten.

"Geben Sie diese Kinder nicht auf!" ist ein Dokument über Kinder, die durch den Verlust ihres Zuhauses traumatisiert sind. Über eine Flüchtlingshilfe, die in einem Wettlauf gegen die Zeit und durch das Engagement Einzelner funktionierte, aber auch immer wieder im Verlauf der Zuspitzung des Zweiten Weltkrieges an Restriktionen von Staaten und Institutionen, die ihre Hilfe verweigerten, mit fatalen Folgen für die Betroffenen scheiterte."Schweigen Sie nicht, wo Menschen in Bedrängung sind", gab Thomas Groß den Gästen in der Buchhandlung mit auf den Weg.

(RP)
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