Dinslaken Moderne Geschichte eines Süchtigen

Dinslaken · Die Burghofbühne spielt das Leben von Casanova und erzählt von einem, der ewig süchtig nach Neuem war.

 Giacomo Casanova und eine seiner sehr zeitgemäßen Gespielinnen

Giacomo Casanova und eine seiner sehr zeitgemäßen Gespielinnen

Foto: Burghofbühne

Priester, Lebemann, Soldat, Gelehrter, Scharlatan, Diplomat, Verführer, Verführter. Giacomo Casanova war so viel, dass er in der neuesten Produktion der Burghofbühne gleich von zwei Schauspielern gespielt wurde. Denn Casanova gelang es nicht nur in seinem Leben, sich ständig neu zu erfinden - mit seinen "Lebensberichten" schuf er sich im Alter literarisch noch einmal komplett nach. Mit einer sprachlichen Fülle und entwaffnenden Offenheit, dass es fast 200 Jahre dauern sollte, bis der Text weder gezähmt noch in seinen pikanten Details aufgeplustert gedruckt wurde. Vielleicht war der Zeitgeist wirklich erst in den 60ern bereit für den unverkrampften Umgang mit Sexualität, den Casanova und seine Freundinnen pflegten und die Art, wie er darüber sprach.

Regisseur Joachim von Burchard, der mit Nadja Blank die Bühnenfassung seines "Casanova" nach den Tagebüchern des Lebenskünstlers verfasst hat, brachte beides in seine Inszenierung ein: den Freigeist des Rokoko und den Spirit der Flower-Power-Zeit. Auf einer Bühne, die zerwühlte Kleiderkiste, Matratzenlager und Warhols Kamera-Set mit überdimensionaler Leinwand zugleich war, und die von der an Keyboard und Laptop live produzierten Bühnenmusik von Jan Exner umweht wurde. Bunte Perücken, barocke Röcke, Weinflaschen und Lounge-Beats. Casanova und seine Gespielinnen tanzen auf dieser Bühne, die durch die architektonischen Gegebenheiten des Tribünenhauses der Trabrennbahn noch mehr Discothekencharakter hat. Dass Musik und Schauspielproduktion bei den Proben parallel entwickelt wurden, merkte man der Premiere positiv an: Das Timing der Akteure, ihre Bewegungen und ihre Sprache flossen im Rhythmus der Beats und Songs. Dazu setzten Running Gags wie die triefend nass gereichten Taschentücher für "dramatische Tränen" immer wieder Lacher im Publikum.

Casanova ist ein Kostümstück, Lara Christine Schmidt, Julia Sylvester, Teresa Zschernig, Markus Penne und Patric Welzbacher wechseln mit ihren Kleidern (Sandra Nierhaus) die Rollen. Und doch bleibt Markus Penne als Casanova haften: Er kann sich so herrlich echauffieren, wenn ihn das Objekt seiner Begierde auf die Folter spannt - Casanovas Masche, die Ernsthaftigkeit seines galanten Spiels glaubhaft zu machen und zugleich ein Zeichen des Drucks seiner Sucht. Denn Casanova war wohl süchtig: nach dem nächsten Kick, dem immer wieder Neuen. Das macht ihn so modern. Modern sind auch seine Geliebten. Ob sie im Kloster leben oder als falscher Kastrat Opern singen - sie nutzen Casanova, um ihre Neugier zu stillen, einer ehelichen Langeweile zu entfliehen oder einfach, um ein Vergnügen mehr auszukosten. Die Bühnenfassung bricht die einseitige Perspektive Casanovas als Autoren auf, durch Textverschiebungen und -überblendungen verraten sie ihre Wünsche, kommentieren das Geschehen.

Casanova schuf mit seinen Memoiren auch das Grundgerüst für Softpornos. Mit ein paar Turnübungen nimmt die Inszenierung diesen Aspekt auf die Schüppe, hält mit kommentierenden und Distanz schaffenden Texten dagegen. Und dann gibt es ja auch noch eine Entwicklung. Denn ungestraft kommt Casanova mit seinem Lebenswandel nicht davon. Erst heiratet er fast unwissentlich seine Tochter, dann fällt er auf die Betrügerin Charpillon herein. Die Suche nach dem Kick ist eine Sucht geworden, die ihm jeden klaren Blick geraubt hat. Das ist bitter, aber auch modern. Viel Applaus des Premierenpublikums für zwei kurzweilige, unterhaltsame Theaterstunden. bes

(RP)
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