Hintergrund "Keine Streicheleinheiten für Erdogan-Fans"

Dinslaken · Dinslakens stellvertretender Bürgermeister Eyüp Yildiz fordert nach dem Referendum in der Türkei eine Integrationsdebatte "mit Ecken und Kanten".

 „Seit Jahrzehnten fehlt in Dinslaken der offene, kritische Dialog“, so Yildiz.

„Seit Jahrzehnten fehlt in Dinslaken der offene, kritische Dialog“, so Yildiz.

Foto: VH

Yildiz hat wiederholt vor einer falsch verstandener Toleranz in der Integrationsdebatte gewarnt. Nach dem Ausgang des Referendums in der Türkei und den Reaktionen darauf, hält Dinslakens stellvertretender Bürgermeister diese Mahnung für dringender den je. Die in Deutschland lebenden Türken, die sich an dem Referendum beteiligt hätten, so schreibt Yildiz in einer Presseerklärung, hätten die geplante Verfassungsänderung des Staatspräsidenten Erdogan mit breiter Mehrheit unterstützt. Menschen, die hier lebten, die hier geboren seien, hätten für eine Autokratie gestimmt. Menschen, die hier die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und auch den Sozialstaat in vollen Zügen genössen, hätten für einen aggressiven, hasserfüllten Zeitgenossen gestimmt. 40.000 Menschen säßen in der Türkei noch im Gefängnis, weil der Staatspräsident sie verdächtige, mit den Putschisten vom Juli 2016 unter einer Decke zu stecken. Die Türkei gehöre zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit.

"Das Fundament dieser Politik sei der politische Islam. "Er kennt keine Farben, außer Schwarz und Weiß. Er ist auch nicht dialogbereit. Er lügt, diskrediert und schüchtert ein", schreibt Yildiz. Um so verstörender sei die Tatsache, dass Menschen, die in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt hätten, ihre Stimme einem Feind der offenen Gesellschaft geben. Ihm persönlich falle es sehr schwer, irgendeine Rechtfertigung für die Verblendung seiner Mitbürger mit ebenfalls türkischen Wurzeln zu finden. Andere hätten die Gründe aber offenbar schon gefunden. Sie führten Arbeitslosigkeit, Entfremdung und fehlende Chancengleichheit vorschnell als mögliche Ursachen für die "Ja-Wahl" der hier lebenden Türken ins Feld. Viele fühlen sich in der Tat abgehängt, so Yildiz. Im Dinslakener Stadtteil Lohberg gebe es eine Jugendarbeitslosigkeit von über 30 Prozent und eine prekäre Bildungssituation. Lohberg brauche dringend Arbeits- und Ausbildungsplätze. "Aber rechtfertigt dies wirklich die Hinwendung zu autokratischen Systemen oder rechten Parteien, fragt Yildiz. Die Innenstadt und das Blumenviertel habe ebenfalls mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Dies belege der Sozialbericht der Stadt Dinslaken aus dem Jahr 2013. Bislang habe die AfD hier trotzdem keine Erfolge verzeichnen können.

Eine Ideologie brauche Beeinflussung, ein ausgeklügeltes Netzwerk und politischen Freiraum, um sich auszudehnen. Seit den 70er Jahren habe sich in Deutschland der politische Islam etablieren können. Diese Strömung habe mit Erdogan ihren Führer gefunden. Sie versuche, das politische, kulturelle und soziale Klima zu vergiften, indem sie diskreditiere, lüge und einschüchtere. Glühende Erdogan-Anhänger säßen schon längst in Integrationsräten und in den Vorständen von Vereinen. Eine anti- demokratische Welle könne sich in einer Demokratie jedoch nur entfalten, wenn ihr Freiräume zugesprochen wurden. Seit Jahrzehnten habe in Dinslaken der offenen und kritische Dialog gefehlt und es schaue so aus, als werde sich dies in Zukunft nicht verändern, solange die Schönredner, die Diskurshoheit auf dem Gebiet der Integrationspolitik für sich beanspruchten. Der Dialog mit Erdogan-Anhängern sollte geführt werde, aber es sei heuchlerisch und fatal, wenn Leute jetzt aufstünden und lapidar nach diesem Dialog verlangten, ohne sich dabei Gedanken zu machen, was im Moment in der Türkei passiert. Die Ausblendung der Wahrheit aus falsch verstandener Toleranz oder gar aus politischem Kalkül sei der wahre Nährboden für Antidemokraten. Sehr wichtig sei die Stärkung der demokratisch gesinnten Migranten und der Muslime, deren Basis der friedfertige, barmherzige Islam sei. Gerade diese Menschen hätten es in der heutigen Zeit besonders schwer. Einerseits würden sie nicht selten mit den anderen in einem Topf geworfen und andererseits würden sie von Erdoganisten als Verräter in der türkischen Gemeinschaft diskreditiert. Es sei schon skurril zuzuschauen, dass Erdoganisten, egal ob in der Türkei oder in Deutschland die Demokratie für eine Autokratie auswechseln wollten und von Verrat redeten, wenn man sich diesem Tausch verweigere. Unbegreiflich sei aber, dass jetzt die Erdoganisten von Pseudodemokraten und vermeintlichen Menschenverstehern Streicheleinheiten bekämen, indem diese den Erdoganismus in Deutschland mit fehlender Bildung, Arbeitslosigkeit und Entfremdung legitimierten. Unterstützung bräuchten jetzt nicht die, die die Fahne von Gewalt, Hetze und Hass hochhielten, sondern die Menschen, die in türkischen Gefängnissen säßen, weil sie Ihre Meinung hätten kundtun wollten. Auch wenn diese Menschen 2000 Kilometer südlicher von uns lebten. Es sei ehrlicher und aufrichtiger, wenn man sie aus der Ferne unterstütze, als wenn man denen Verständnis entgegenbringe, die hier vor Ort lebten und eine Diktatur per Fernbedienung mitinstallierten. Denen helfe nur ein Dialog mit Ecken und Kanten.

Eine Diktatur, Autokratie oder die Macht eines Despoten könne in globalisierten Zeiten nur dann atmen, wenn es Unterstützer gebe. Die Türkei und Europa seien wirtschaftlich immens voneinander abhängig. Die Wirtschaft werde aber nicht nach Einhaltung von rechtsstaatlichen und demokratischen Werten verlangen. Sie wolle vor allem eins: Stabilität. Menschenrechte, Pressefreiheit hätten dabei keine Priorität. "Was die Welt braucht, ist eine starke und kritische Wertegemeinschaft, die den Humanismus zur Grundlage des Handelns macht", schreibt Yildiz.

(RP)
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