Kolumne Neu In Der Stadtbücherei Hinter den Kulissen einer Selbstinszenierung

Dinslaken · Eine deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin hat eine ganz ungewöhnliches biographisches Porträt Martin Walsers (geb. 1927) vorgelegt, das den bedeutenden Autor aus fast intimer Nähe erleben lässt und manches Walser-Klischee relativiert: Susanne Klingenstein, "Wege mit Martin Walser. Zauber und Wirklichkeit". Klingenstein begegnete Walser zuerst 2009, kam ihm in vielen persönlichen Gesprächen recht nahe und inspirierte Walser zu einem Buch über einen heute so gut wie vergessenen jiddischen Schriftsteller (S.Y. Abramowitsch).

Ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit Walser, vor allem während einer gemeinsamen Lesereise 2014, dokumentiert Klingenstein in Form einer "erfahrenen Biografie". Wir lernen Walser hier als einen Schriftsteller kennen, für den Leben und Schreiben eins geworden ist, für den Schreiben sein Leben ausmacht und für den sein Leben wieder zum Roman wird. Und wir erleben Walser als raumgreifende Persönlichkeit mit seiner unverwechselbaren Aura, als Sprach-Magier und literarischen Zauberer, dessen Charme die Autorin immer wieder verfällt. Wir erfahren aber auch vieles, was die literaturwissenschaftlich "korrekten" Biographien verschweigen: Walsers perfekt einstudierte Selbstinszenierungen, seine Funktionalisierung anderer Menschen für seine literarische Kreativität, sein Spott und seine Kälte, seine Übergriffigkeit Frauen gegenüber, auch die tragende Rolle seiner Ehefrau für seine Schriftstellerexistenz. Das macht den Autor nicht immer sympathisch, lässt aber viele seiner Schriften und seiner öffentlichen Auftritte besser verstehen. Glaubwürdig wird diese Biografie, weil die Autorin auch ihren Part bei dieser "Freundschaft auf Zeit" mit darstellt und sich dabei keineswegs schont. Hier beeindruckt besonders, wie die Autorin trotz zeitweise verletzender Verhaltensweisen Walsers dessen Charme und viriler Ausstrahlung immer wieder aufs Neue erliegt - solange ihm das wichtig ist. Für Walser-Leser empfehlenswert sind die Neu-Deutungen einiger der wichtigsten Romane Walsers, allem voran "Der springende Brunnen" von 1998 und "Muttersohn" von 2011. Das alles ist mit leichter Hand und in lockerem Ton geschrieben und liest sich recht anregend. Für Walser-Fans fast ein Muss, für Einsteiger in sein Werk eine empfehlenswerte Einführung der ganz anderen Art.

RONALD SCHNEIDER

Klingenstein, Susanne: Wege mit Martin Walser. Zauber und Wirklichkeit; Weissbooks: 2016.

(RP)
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