Dinslaken Geflüchtet über die gefrorene Ostsee

Dinslaken · Die aktuelle Situation vieler Flüchtlinge ruft bei Waltraud Bitter schlimme Erinnerungen wach. Die 76-jährige Dinslakenerin ist 1945 mit ihrer Mutter und vier Geschwistern aus Ostpreußen geflohen. Sie litt Todesängste.

 Wie es ist, die Heimat verlassen zu müssen und auf der Flucht zu sein, erlebte Waltraud Bitter als junges Mädchen. Sie empfindet mit dem Flüchtling mit.

Wie es ist, die Heimat verlassen zu müssen und auf der Flucht zu sein, erlebte Waltraud Bitter als junges Mädchen. Sie empfindet mit dem Flüchtling mit.

Foto: MB

Flucht und Vertreibung im Januar 1945. Wir entschieden uns damals, den schnellsten Weg über die zugefrorene Ostsee beziehungsweise über das frische Haff zu nehmen - meine Mutter und fünf Kinder. Mit Hunderttausenden anderen Menschen machten wir uns auf den Weg. Feindliche Flugzeuge flogen über uns hinweg und ließen ihre Bomben ins Eis fallen. Wenn sie im Anflug waren, rief jemand: "Alles hinlegen, feindliche Flugzeuge. Und nicht bewegen." Alle lagen dann bäuchlings auf dem Eis und litten Todesängste. Wir waren ihnen schutzlos ausgeliefert. Es spielten sich erschütternde Szenen ab. Pferde und Wagen versanken mit schreienden Menschen in der Tiefe. Ich war fünf Jahre alt und habe das gesehen.

Immer wieder kamen sie im Tiefflug, als hätten sie Freude daran, Menschen zu versenken. Wir waren zu Fuß unterwegs mit wenigen Habseligkeiten auf einem kleinen Schlitten. So konnten wir den Löchern im Eis besser ausweichen. Als wir das rettende Ufer der Nehrung erreicht hatten, brachen wir im Schilf bis zu den Hüften ein. Es war minus 20 Grad und wir hatten keine Kleidung zum Wechseln. Deutsche Soldaten nahmen uns in ihren Bunker, wo wir unsere nassen Sachen aufhängen konnten. Sie gaben uns Decken und etwas Warmes zu trinken. Es gab ständig starken Beschuss und an ein Weiterkommen war nicht zu denken. Irgendwann kamen wir dann doch mit einem Schiff bis zur Halbinsel Hela, wo wir in einem mehrstöckigen Hotel untergebracht wurden. Der Hafen dort wurde ständig bombardiert und der ganze Bau zitterte und schwankte. Passagierschiffe kamen von dort nicht mehr weg. Wir hörten von untergegangenen Schiffen. Für uns bot sich ein Kohlenschiff an. Mit Tausenden stiegen wir eine Art Leiter hinunter in den Schiffsbauch. Dort waren Strohlager an Strohlager und überall standen große Fässer im Schiffsinnern verteilt. Als das Schiff fuhr, wurden alle seekrank und saßen um die Fässer herum. Andere Fässer waren etwas erhöht. Man musste einige Stufen hochsteigen. Sie dienten als Toiletten. Im ganzen Schiff war ein fürchterlicher Gestank. Wenigsten wurden wir nicht beschossen. Es war schließlich ein Kohlenschiff und fuhr nach Kopenhagen. Ich glaube nicht, dass das jemand wusste.

Als wir dort ankamen war es ungefähr Ende April. Es war schon warm. Wir wurden in einer großen Schule untergebracht, wahrscheinlich ein Gymnasium. Die Klassenzimmer waren mit Strohsäcken ausgelegt. Wir waren völlig verdreckt, hatten Kopf- und Kleiderläuse, Krätze, in den Strohsäcken waren Wanzen. Und keine Sachen zum Wechseln. Wenn meine Mutter waschen wollte, mussten wir unter der Decke bleiben. Wir kamen dann bald in ein Barackenlager außerhalb der Stadt - mit Stacheldraht und Wachposten. Niemand durfte hinaus. Als mein Bruder sterbenskrank wurde, durften wir täglich passieren und ihn in einem Kopenhagener Krankenhaus besuchen. Die Leute auf der Straße spuckten uns vor die Füße und beschimpften uns als "Deutsche Schweine". Meine Mutter sagte zu mir: "Das gilt allen Deutschen. Nicht uns persönlich. Wir haben es nicht anders verdient." Aber ich war zu diesem Zeitpunkt erst sechs Jahre alt und musste mich für alle Deutschen anspucken lassen.

Man hat uns schlecht behandelt. Manchmal gab es nichts zu essen, manchmal nachts, wenn dann das Essen sauer war. Im Winter achtete die Lagerleitung streng darauf, ob irgendwo zur falschen Zeit ein Schornstein rauchte. Dann kamen sie und gossen Wasser ins Feuer. Wir schlugen die Hände über dem Körper zusammen gegen die Kälte und machten Gesellschaftsspiele gegen die Langeweile. Es war ein sehr kalter Winter 1945/46.

Gegen meine Krätze wurde mein ganzer Körper mit schwarzer Salbe eingeschmiert, die Hände umwickelt, ich in einen Papiersack gesteckt und oben zugebunden. Nur der Kopf guckte heraus. Nach zwei Tagen war ich gesund. Wir Kinder spielten Krieg: Deutschland erklärt den Krieg gegen . . . Und dann bewarfen wir uns mit Steinen. Nach zweieinhalb Jahren wurde das Lager aufgelöst. Meine Mutter sagte: "Jetzt wird alles gut, wir fahren heim ins Reich." "Ja, und wir werden in einem richtigen Bett schlafen und uns mit Federn zudecken", sagte ich. In einem vollgepferchten Gepäckwagen fuhren wir, meine Mutter, vier Kinder und die Urne mit der Asche meines ältesten Bruders, heim. Im Aufnahmelager angekommen wurden wir erst einmal desinfiziert. Man pustete uns ein Pulver unter den Rock und vom Kragen abwärts. Die Jungs mussten die Hose lockern. An ein Willkommen kann ich mich nicht erinnern. Wir kamen weiter südlich wieder in ein Lager mit Stacheldraht, in die französische Zone von Deutschland. Danach kamen wir in ein Dorf. Es war Herbst, überall lag Obst auf den Wiesen. Meine Mutter sah das als Geschenk des Himmels an, und es gab jeden Tag Obstsuppe mit etwas Mehl angedickt. Eines Tages lag eine Anzeige wegen Diebstahls gegen meine Mutter vor. Der Bauer, der meine Mutter angezeigt hatte, meinte: "Der Krieg ist längst vorbei, warum geht ihr nicht dahin, wo ihr hergekommen seid?" Inmitten satter Menschen haben wir gehungert. Mit Obstsuppe war es dann vorbei. Zwei, drei Bauern hatten Mitleid mit uns und legten uns im Schutz der Dunkelheit öfter etwas vor die Haustür. Sie waren alle Selbstversorger, hatten Obst, Gemüse und Fleisch. Nur wir hatten nichts. Nun musste ich jeden Tag drei Liter Magermilch kaufen (Vollmilch konnten wir uns nicht leisten) und es gab täglich Milchsuppe mit Mehlklunkern. Es war Herbst und wir sammelten Ähren, die beim Abernten abgebrochen waren. Wir gingen barfuß über die Stoppelfelder, um die Schuhe für Schule und Kirche zu schonen. Meine Mutter sagte zu uns: "Wir sind wie die Vögel des Himmels - sie säen nicht und sammeln nicht in ihre Scheunen und doch ernährt sie der himmlische Vater." Wir brachten die Ähren zum Dreschen und hatten ein Viertel Zentner Körner, die in Mehl getauscht wurden. Im Wald sammelten wir Pilze, die sonst niemand aß. Dafür brauchten wir keinen Amtsstempel. Meine Mutter half bei der Kartoffelernte und wurde mit Kartoffeln bezahlt. Außerdem erhielten wir eine Genehmigung zum Holz-, Reisig- und Tannenzapfensammeln. So konnte der Winter kommen.

Im Nachbarort wohnte ein Baron von Stauffenberg mit seiner Familie. Da wurde meine Schwester als Kindermädchen eingestellt. Sie war 16 Jahre alt, bekam gute Kleidung und Essen. Manchmal fuhren sie mit der Kutsche durch unsere Ortschaft, und meine Schwester brachte uns dann immer etwas Geld. Da nun bei uns ein Platz frei wurde, hatte mein Bruder endlich ein Bett für sich allein. Wir hatten nämlich nur zwei Betten für vier Kinder.

Bis 1950 änderte sich an unserem Leben kaum etwas. Wir waren Flüchtlinge und unerwünscht. Abends guckten sie in unsere Fenster, als wären wir welche vom anderen Stern. Wir waren Deutsche, wir hatten die gleiche Hautfarbe, die gleiche Kultur, die gleiche unselige Geschichte, die gleiche Religion, nur mit der Sprache gab es große Probleme - sie sprachen kein Hochdeutsch.

Wir kauften uns Hühner- und Entenküken. So hatten wir später täglich unser Ei und von den Federn der Enten fertigte meine Mutter die ersehnten Federbetten.

(RP)
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