Neu In Der Stadtbibliothek Der überforderte Mann in der modernen Lebenswelt

Dinslaken · Wilhelm Genazino, erfolgreicher und schon mit vielen Literatur-Preisen bedachter Romancier, wurde in dieser Kolumne schon 2014 und 2016 mit seinen beiden vorigen Romanen vorgestellt.

Genazinos neuer Roman "Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze" knüpft mit seiner schrulligen Zentralfigur, seinem Erzählstil und seinen Themen unmittelbar an seine letzten Romane an und variiert auf einfallsreiche Weise die Klage über den überforderten Mann in unserer modernen Lebenswelt.

Der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist eine typische Genazino-Figur, ein älterer Mann, der bereits dreimal beruflich gescheitert ist: als Bibliothekar, Wertpapier-Händler und als Provinz-Redakteur. Er sieht sich selber als einen "Fremden unter den Menschen", immer zu sehr mit sich selbst und seinen Gedanken beschäftigt und "zu wenig mit der realen Welt verbunden". Und er ist überdies ein ausgeprägter Hypochonder, voller Ängste und Obsessionen, ein Spielball seiner wechselnden Stimmungen.

Trotzdem gewinnt diese Versager-Figur die Sympathien des Lesers, und erstaunlicher Weise wirkt der traurige Held trotz all seiner Schrullen auch anziehend auf mütterliche, großherzige und sinnliche Frauen. Er seinerseits zeigt sich hier, auf dem Gebiet seiner sehr speziellen erotischen Vorlieben und sexuellen Begehrlichkeiten, erstaunlich aktiv und engagiert.

Zu Beginn des Romans ist der Ich-Erzähler wieder mit seiner Ex-Ehefrau Sibylle liiert, die ihn auch finanziell über Wasser hält.

Nach deren plötzlichem Unfalltod (oder war es Selbstmord?) reaktiviert er eine frühere Geliebte, deren großer Busen ihn noch immer fasziniert - und die er über eine tragische Brust-OP wieder verliert. Dann ist da plötzlich Frederike an seiner Seite, die ihm sogar einen Job vermittelt. Zwischen seinen Beziehungsgeschichten und zufälligen Begegnungen mit früheren Freunden und Bekannten, auf seinen langen Spaziergängen durch Frankfurt, werden immer wieder Erinnerungen in ihm wach an seine "traurige Kindheit" und an seine Eltern, die ihm "keinen positiven Lebensmut vermitteln" konnten.

Wie schon in den Vorgänger-Romanen Genazinos bleibt die Handlung des Romans aber immer nur angedeutet, im Vordergrund stehen die grotesk-komischen Situationen, in die der Ich-Erzähler immer wieder gerät, und seine abrupt wechselnden Stimmungslagen und grüblerischen Reflexionen. Genazino balanciert hier gekonnt und virtuos auf der Grenze von Komik und Tragik und zieht mit seinem suggestiven Parlando-Stil seinen Leser bis zum überraschenden Ende in seinen Bann.

Für die Fans des Autors ist der "neue Genazino" mit seinen verblüffende Beobachtungen und ironisch zugespitzte Aphorismen, seinen suggestiv-einprägsamen Wort-Kreationen und den vielen "schrägen" Situationen ein Muss. Genazinos neuer Roman empfiehlt sich aber auch zum Kennenlernen dieses bedeutenden Satirikers und Humoristen.

RONALD SCHNEIDER

Wilhelm Genazino: Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze. Roman; Carl Hanser Verlag, München 2018.

(RP)
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