24 Jahre nach der Einschulung Was ist bloß aus euch geworden?

Düsseldorf · Mit 21 anderen Kindern wurde unser Autor 1993 eingeschult. Was ist aus ihnen geworden? Sind sie glücklich - und falls ja, weshalb? Eine Spurensuche.

 Wir Kinder aus der Klasse 1b von Herrn S., der seinen Namen nicht gedruckt sehen will, weil die Schüler allein im Vordergrund stehen sollen: Der Autor (im weißen Pullover mittig) hat versucht, alle seine Mitschüler aus der ersten Klasse zu kontaktieren. Unkenntlich gemacht sind diejenigen, die er nicht erreicht hat.

Wir Kinder aus der Klasse 1b von Herrn S., der seinen Namen nicht gedruckt sehen will, weil die Schüler allein im Vordergrund stehen sollen: Der Autor (im weißen Pullover mittig) hat versucht, alle seine Mitschüler aus der ersten Klasse zu kontaktieren. Unkenntlich gemacht sind diejenigen, die er nicht erreicht hat.

Foto: Marienschule Nieukerk

Er könne für nichts garantieren, warnt mein Grundschullehrer, doch als ich das Klassenfoto auf seinem Wohnzimmertisch ausbreite, erkennt er jeden einzelnen der 22 Abgebildeten, mit Vor- und Zunamen. Auch 8.524 Tage nach der Aufnahme im April 1994, gegen Ende meines ersten Schuljahrs, vor 23 Jahren und vier Monaten, drei Vierteln meines Lebens.

Mein Auto steht auf der rot gepflasterten Spielstraße vor seinem Haus in Kerken-Nieukerk, heile Welt zwischen Krefeld und den Niederlanden. Genauso gut hätte ich vor der Schule parken können. Laut Google Maps beträgt die Strecke zwischen Lehrerwohnung und Schule 350 Meter, aber Google Maps kennt die Abkürzung über den Bauernhof nicht, die ich damals täglich nahm. Wie viele von uns.

Die Einteilung in die drei Klassen erfolgte nach Wohngebiet, und in unsere 1b gingen vor allem die Kinder, deren Eltern in Straßen wohnten wie Rotdornweg und Weißdornweg, Schlehdornweg und Fliederstraße. In einer einzigen, kurzen Straße dieser Gegend wohnten nicht nur Inga, Sabrina und Janina, sondern auch Jasmin und Julia. Die Mädchen, die in meiner Erinnerung meist pinke Pullover tragen, spielten nachmittags miteinander und an hohen Feiertagen sogar mit uns Jungs — ohne dass es nötig gewesen wäre, sich zu verabreden. Meistens war es nicht einmal nötig zu schellen, weil wir uns auf der Straße über den Weg liefen oder auf dem Spielplatz.

Dass ich selbst neben dem Schulweg auch fast alle Namen meiner damaligen Mitschüler schnell parat habe, ist kein Kunststück: Gregor ist bis heute mein bester Freund, zudem Trauzeuge von Simon, der zwar nicht mehr der Nachbar meiner Eltern ist, aber nach einer Funkstille vor vielleicht 15 Jahren längst wieder ein guter Freund. Kristina ist mit uns allen befreundet geblieben und neulich aus purem, schönem Zufall in meine Nachbarschaft gezogen.

Doch auch an die Wohnorte und Jobs derjenigen, mit denen ich den Kontakt verloren hatte, komme ich schnell - dank Facebook, wo man über einen schnell auf den anderen stößt, und Google sowie dem Karrierenetzwerk Xing. Als ich bei Anja trotzdem nicht weiterkomme, klingele ich bei ihrer Mutter. Die erzählt mir zuerst, dass unser Lehrer, Fisch-Liebhaber, bei der Anlage ihres Gartenteichs geholfen hat und manchmal geräucherte Forellen vorbeibringt. Und Anja? Ist glücklich verheiratet, Krankenpflegerin, und derzeit so ins späte Medizinstudium vertieft, dass kaum Zeit bleibt für ihre Hobbys: Pferde, wie damals, aber auch Tauchen und Klettern.

 Janina Hellmann ist heute nicht "nur" Beamtin und BWL-erin, sondern auch Künstlerin. Erst seit ein paar Monaten, obwohl ihr Talent schon in der Grundschule sichtbar war. Aber besser spät als nie.

Janina Hellmann ist heute nicht "nur" Beamtin und BWL-erin, sondern auch Künstlerin. Erst seit ein paar Monaten, obwohl ihr Talent schon in der Grundschule sichtbar war. Aber besser spät als nie.

Foto: Christoph Reichwein

Nicht aufzufinden sind nur zwei meiner ehemaligen Mitschüler: Erstens der wilde Wolf, unten in der Mitte, der den perfekten Vornamen trug und offenbar keine digitalen Spuren hinterlassen hat. Und zweitens der Junge, an den sich nur die wenigsten von uns erinnern: Der, dessen Mutter nach einer Familientragödie mit ihm weg zog, weit weg. Das war lange, bevor wir 1997 nach einem Abschlussfest an der Grillhütte aufgeteilt wurden: zwei Drittel besuchten danach die Gymnasien der Umgebung, eine Handvoll ging auf die Hauptschule im Ortsteil Aldekerk, ein paar zur Realschule.

Mein heute 67-jähriger Lehrer nimmt sich zwei Stunden Zeit, aber er besteht darauf, dass sein Name nicht genannt wird. Die Schüler allein sollen im Vordergrund stehen. In diesem Falle wir, die ersten überhaupt, die der langjährige Hauptschullehrer vom ersten bis zum vierten Schuljahr getadelt und getröstet, gefordert und gefördert hat.

Auf meine plötzlichen Nachrichten an sie antworten viele - wenn sie nur mit Vornamen genannt werden.

Die meisten sind in der Region geblieben, fast alle in NRW. Jeder dritte meiner ehemaligen Mitschüler lebt in Düsseldorf, viele in Krefeld oder Neuss, eine Handvoll noch oder wieder in Nieukerk. Und das nicht aus Mangel an Möglichkeiten, sondern aus Überzeugung: Die einen hängen an ihren Vereinen oder Stammkneipen, andere möchten Nachbarn und Familie nicht missen - und alle mögen den Niederrhein, die Wälder und Felder, das Grüne, die Ruhe. Spießig? Vielleicht auch selbstbewusst und klug. Sollen doch die anderen nach Berlin rennen.

Als Julia noch an einer Duisburger Grundschule ihr Referendariat absolvierte, nahm sie sich mit ihrem Freund eine Wohnung in der Stadt. Die sei zwar durchaus besser als ihr Ruf, schreibt sie mir, "aber auf Dauer war der Ruhrpott für uns Landeier einfach zu wenig ländlich". Heute leben sie als Ehepaar in Krefeld - und schielen auf eine größere Wohnung in einem kleineren Ort. In dem Wissen, dass sie dort nicht gefangen sind; der letzte Urlaub hat sie nach Bangkok geführt.

Caroline hat in Thailands Hauptstadt sogar ein Auslandssemester verbracht, das sie die "wohl bisher coolste Zeit meines Lebens" nennt. Sie arbeitet bei einem Konzern in Düsseldorf - nimmt aber die Fahrerei samt Stau gern in Kauf, um Feierabende und Wochenenden ganz bewusst in Walbeck zu genießen, eine Viertelstunde von Nieukerk entfernt, in einem Haus mit großem Garten, Kater und ihrem Freund.

Christian, der Spaßvogel unserer Grundschulklasse, hat harte Jahre hinter sich, über die er nicht gern spricht - Hauptschule, Metzgerlehre, zehn Jahre blutige Schwerarbeit auf einem Schlachthof. Doch vor fünf Jahren hat sich sein Glück gewendet. Damals vermittelte ihm sein Schwager einen Job bei einer Schlosserei, vor einem Jahr wurde er zum stellvertretenden Betriebsleiter befördert. Er führt eine Fernbeziehung und überlegt, mit seiner Freundin zusammenzuziehen. Entweder zu ihr nach Ingolstadt. Oder besser noch in sein Heimatdorf, aus dem er nie weggezogen ist. Bei Facebook hat er neulich das Foto eines T-Shirts geteilt, Aufdruck: "Mein Herz gehört nach Nieukerk."

Franziska geht es ganz ähnlich, auch wenn sie weniger den Ort vermisst und mehr die Zeit, die sie dort verbrachte. "Die Stille am Ortsrand, lange Tage im Wäldchen oder auf dem Bolzplatz." Diese Sehnsucht wächst, denn sie ist schon seit mehr als einem Jahrzehnt unterwegs. Ihr Studium und Job als Meeresforscherin haben sie nach Bremerhaven und Dresden gespült, ins britische Newcastle und sogar nach Neuseeland. Ihre derzeitige Arbeit am Wellenkanal im weniger exotischen Hannover sei "ja auch ein bisschen wie ein Tag am Meer", scherzt sie. Dass die passionierte Wellenreiterin gerade aus einem riesigen Block Balsaholz ihr eigenes Surfbrett schleift, hatte ich über Facebook mitbekommen. Dass sie eine von drei Ex-Mitschülerinnen mit Doktortitel ist, erfuhr ich erst bei der Recherche für diesen Artikel. Wenn er erscheint, ist sie Surfen.

Sabrina hat als Diabetesforscherin promoviert. Doch die Jobaussichten in Deutschland seien "nicht allzu rosig", diplomatisch ausgedrückt. "Zum Glück war es ohnehin mein Wunsch, mal eine Weile im Ausland zu leben". Vor einem Jahr ging es in ihr Traumland Schweden: An der Uni Göteborg forschte sie als Teil eines internationalen Teams an Nierenerkrankungen. "Das war nicht nur spannend, sondern hat auch meinen Horizont unheimlich erweitert." Aber bei aller Liebe zu Schweden und ihrer Arbeit dort ist sie seit ein paar Wochen zurück - zu groß war das Heimweh nach ihrem Freund und ihrer Familie. Auch das imponiert mir, zumal ihre nächste Arbeitsstelle noch nicht feststeht.

Aber um die strebsame Sabrina sorgt sich niemand. Um Jennifer schon. Sie sei schon jung Mutter geworden, raunt man über Jenny. Ob das wohl so geplant gewesen sei, fragen sich viele, nicht hämisch, eher besorgt, aus einer Art Solidarität mit der Ex-Mitschülerin. Sie selbst amüsiert das. Seit 16 Jahren ist sie mit ihrem Freund zusammen, mehr als ihr halbes Leben. Vor acht Jahren haben sie geheiratet - und dazwischen eben die ersten beiden Kinder bekommen. Inzwischen sind es drei. "Gewollt", betont Jennifer. "Jeder soll sein Leben gestalten, wie er mag. Ich liebe meins genau so wie es ist." Nach Friseurinnenausbildung und Babypause hat sie die Branche gewechselt, heute ist sie Leitungsassistentin in einem Discountmarkt. Fazit: "Uns geht es super". Dass das mancher nicht glauben mag, ist ihr klar. Familienglück sei buchstäblich unbeschreiblich.

Wie repräsentativ all das nun ist? Berechtigte Frage. Wie ehrlich ist man gegenüber jemanden, den man seit 10, 15, 20 Jahren nicht gesehen hat, und der Reporter ist? Schüttet man ihm sein Herz aus? Eher nicht. Aber die Geschichten, die ich zu hören bekomme, sind echt. Einer erzählt von einem Hirnschaden. "Alles, was mit meinem Gleichgewichtssinn zu tun hat, musste ich dieses Jahr neu lernen", sagt er, "auch das Laufen." Die zwei schweren Monate haben etwas in ihm verändert: Nach 17 Jahren hat er aufgehört zu rauchen und angefangen zu joggen - "könnte ja sein, dass ich eines Morgens erneut aufwache und nicht mehr laufen kann..." Ein besserer Mensch sei er seitdem nicht, aber weniger perfektionistisch. Er und viele andere sind heute glücklich, weil sie es nicht immer waren.

Marcel zum Beispiel wollte eigentlich Bio- und Chemielehrer werden. Wurschtelte sich durch, wählte nach drei Jahren Informatik statt Chemie und versuchte später, von Gymnasial- auf Grundschullehramt zu wechseln, was aber aus formalen Gründen nicht klappte. "Also habe ich einen letzten Versuch gestartet und komplett auf Wirtschaftsinformatik gewechselt", erzählt Marcel heute, kupferrotes Haar wie eh und je und stolzer "Vollblut-Nerd". "Dann habe ich realisiert, dass ich mit dem Studieren selbst nicht klarkomme." 2014, nach 14 Semestern, sieben langen Jahren, wählte er das Ende mit Schrecken - und den Neuanfang. Er schmiss die Uni, heiratete seine Freundin, die er zu diesem Zeitpunkt erst seit einem Jahr kannte, und begann eine Ausbildung zum Fachinformatiker, die er kurz nach dem ersten Geburtstag seines Sohnes abschloss. Einige aus seinem Abi-Jahrgang hätten "richtig was gemacht", sagt Marcel: "Banker, Aktienmakler... aber Karriere und Geld sind nicht alles. Mein größtes Glück sind mein Sohn und meine Frau, meine Familie und Freunde. Klingt vielleicht abgedroschen, aber genau so ist es."

Die vielleicht schönste Geschichte ist die von Janina Hellmann. Die Zusage über die Duale Ausbildung zur Diplom-Verwaltungswirtin bei der Stadt Krefeld hatte sie bereits ein Jahr vor dem Abitur in der Tasche - aber wirklich glücklich machte sie die oft trockene Büroarbeit nie. 2009 war sie fertig ausgebildet, 2012 verbeamtet auf Lebenszeit. Da setzte sich der Gedanke fest, dass es das noch nicht gewesen sein könne. Also wechselte sie auf eine Halbtagsstelle und sattelte ein komplettes BWL-Studium obendrauf - auch, um im Job mehr gestalten zu können. Doch nach der Abgabe der Arbeit kam die totale Erschöpfung. Laute Lebensfragen im Kopf.

An ihrem Tiefpunkt griff die vielleicht beste Künstlerin, die unsere Grundschule je besuchte, erstmals nach Jahrzehnten zum Pinsel. Das war ihre Rettung. Sie malte sich Stress, Frust und Ohnmacht von der Seele. Und erstmals überhaupt drangen die Komplimente durch, die beinahe ein Vierteljahrhundert an ihr abgetropft waren. "Selbstzweifel", sagt sie, "Selbstzweifel heftigster Art". Passé. Erst baten Freunde sie um Bilder, dann Freunde von Freunden. Bald meldete sie ein Nebengewerbe an und richtete eine Website ein. Ihre erste Ausstellung wäre fast daran gescheitert, dass sie zu wenige Bilder fertig hatte.

Doch auch in ihrem Job wollte sie etwas verändern. "Schließlich kommen noch viele, viele Montage im Leben", sagt sie. Längst beschränkt sie sich nicht mehr auf die Verwaltung der Kultur, sondern mischt immer öfter auch inhaltlich mit. Und malt, malt, malt. Bei Kerzenschein, bis sie die Zeit vergisst und oft genug auch das Abendessen. Porträts. Nach Fotovorlagen, aber immer mit eigenem Stil. Mit Tusche und Ölkreide, auf Pappe und Leinwand, Acrylpapier und Holz.

Dass sie wieder mit dem Malen begann, lag an den gesammelten Erinnerungen. An den Stimmen in ihrem Kopf von Freunden, Verwandten, Fremden. Eine sagte: "Mensch, mal weiter! Wenn nicht du, wer denn dann? Du hast Fantasie für drei!" Sie gehörte unserem Lehrer.

Dessen Traurigkeit darüber, dass die kleine Janina vor 20 Jahren auch ihre schönsten Bilder wegwarf, ist weg, seit ich ihm von ihrem künstlerischem Nebengewerbe erzählt habe.

Doch auch uns anderen will er noch etwas Gutes tun. So wie er damals, spätabends vor dem Brennofen, heimlich die allergrößten Beulen in den Tongefäßen glattstrich, die wir unsere Eltern schenken wollten. Er bietet mir die letzten der Fotos an, die er von uns in Karnevalskostümen schoss und die wir damals zum Selbstkostenpreis bei ihm kaufen konnten wie Kakao in der Pause beim Hausmeister. Als ich höflich ablehne, kommt ihm eine Idee. Beim Gedanken an all die anderen 30- und 31-Jährigen sagt er: "Dann bring sie doch den anderen Kindern mit!"

(tojo)
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