Walter Baltes (95) will nicht alleine sein Tausche Tischgespräch gegen Sonntagsbraten

Witten · Walter Baltes aus Witten will nicht mehr allein sein und hat sich etwas ausgedacht: Familien sollen ihn zum Essen einladen. Im Gegenzug bezahlt er den Braten und erzählt aus seinem Leben. Seitdem steht das Telefon nicht mehr still.

 Allein zu essen schätzt Walter Baltes nicht. Deshalb hat sich der 95-Jährige überlegt, sich für eine Einladung mit einem interessanten Tischgespräch zu revanchieren. Er habe viel erlebt und „ein unvorstellbares Gedächtnis“, sagt er.

Allein zu essen schätzt Walter Baltes nicht. Deshalb hat sich der 95-Jährige überlegt, sich für eine Einladung mit einem interessanten Tischgespräch zu revanchieren. Er habe viel erlebt und „ein unvorstellbares Gedächtnis“, sagt er.

Foto: BERND THISSEN

Wenn Walter Baltes gefragt wird, ob er einsam ist, guckt er ein bisschen verächtlich. "Ich bin schon einsam", sagt er, "aber man muss aus seiner Einsamkeit etwas machen."

Das hat Walter Baltes getan. Der 95-Jährige aus Witten wollte sich nicht damit abfinden, jeden Tag, der ihm noch bleibt, allein in seiner Wohnung zu sitzen. Er dachte sich, wie schön es wäre, wenn er bei unbekannten Leuten zu Gast sein, an einem gedeckten Tisch Platz nehmen und ein gutes Stück Sonntagsbraten essen dürfte — so entstand seine Aktion "Tausche Gesellschaft gegen Sonntagsbraten", bei der fremde Menschen ihn sonntags zum Essen einladen.

"Die Menschen sind gut, du musst ihnen nur auch etwas bieten, damit sie Kontakt zu dir aufnehmen", sagt Baltes. "Also spendiere ich den Braten." Die Idee machte er über eine Zeitung in Witten publik, und seitdem steht das Telefon nicht mehr still.

Wenn Walter Baltes von seinen Einladungen zum Sonntagsessen erzählt, dann leuchten seine Augen, und um seinen Mund zieht sich ein verschmitztes Lächeln. "Ich bin ein pflegeleichter Gast. Bis auf Leber esse ich alles, und ich habe immer guten Appetit", betont der Senior, der seit fünf Jahren verwitwet ist. Über seinen Sonntagsbraten-Coup, über den bereits amerikanische Medien berichtet haben, freut er sich diebisch.

"Ich habe viele gute Ideen gehabt, die mir in meinem Leben weitergeholfen haben", sagt er. So hat er zwei Patente für Bergwerkstechnik erworben. Und für eine kurze Zeit Ende Mai 1945 hat ihn eine andere Idee zum "König von Witten" gemacht: Von seinem Vetter Willi, der in einer Brauerei arbeitete, besorgte er Bier, ließ es in Flaschen abfüllen und verkaufte es an die britischen Besatzungssoldaten. "Zu mir kamen sie alle, weil ich als Einziger Bier hatte." Das tauschte er gegen Lebensmittel und Geld.

Walter Baltes, der unter anderem Bühnenbildnerei studiert, eine kaufmännische Ausbildung gemacht und auch Bücher veröffentlicht hat, wohnt seit drei Jahren in einer kleinen, altersgerechten Wohnung. "Ich gehe alleine einkaufen und koche für mich jeden Tag", sagt er stolz. "Das macht mir Spaß." Ab und zu geht er nebenan in den Speisesaal eines Senioren-Stifts und isst dort — "aber nur, wenn es was Leckeres gibt". Fisch zum Beispiel, da greift Walter Baltes gerne zu. Häufiger, etwa auch an den Sonntagen, möchte er dort aber nicht essen. "Wissen Sie, da sind ja nur alte Leute, die mümmeln vor sich hin und antworten immer nur Ja oder Nein — da kommt selten ein Gespräch zustande." Und darum geht es ihm ja, um das Gespräch.

Denn Walter Baltes hat viel zu erzählen: Er war Fallschirmjäger im Krieg, über seine Erfahrungen hat er ein Buch verfasst und vielen Wittener Schülern als Zeitzeuge von den Gräueln des Krieges berichtet. Zwei Tage vor Kriegsende 1945 ist er aus der britischen Gefangenschaft geflohen und zu Fuß von Bielefeld nach Witten gelaufen. Geschichten wie diese sind sein Kapital. "Ich kann nicht überall mitreden, aber ich kenne mich bei vielen Sachen aus." Außerdem sei er ja noch fit, nehme keine Tabletten und gehe an seinem Rollator regelmäßig spazieren.

"Und ich habe ein unvorstellbares Gedächtnis", sagt er. Nur das Gehör funktioniert nicht mehr so wie früher, aber schließlich sei er 95 und froh, "dass ich überhaupt noch am Leben bin". Dreimal war Walter Baltes verheiratet und hat vier Kinder. Ein Sohn war Kapitän und wohnt in Cuxhaven, wo er ein Wrackmuseum mit eingerichtet hat. Seine Tochter lebt in Österreich. "Natürlich wäre es für mich schöner, sie wären alle in meiner Nähe." Die Tochter ruft ihren Vater jeden Tag an, aber zu ihr ziehen möchte Walter Baltes nicht. "Alt und Jung geht nicht gut zusammen."

Bei seinen Sonntagsessen harmonieren Alt und Jung allerdings gut. Wie bei Familie Brüggemann, bei der Walter Baltes eingeladen war. Inge und Guido Brüggemann aus Witten hatten von der "Sonntagsbraten"-Idee gelesen und fanden es toll, dass ein älterer Mensch aktiv gegen seine Einsamkeit vorgeht. Nach einem Gespräch mit den Söhnen Jakob (16), Phillip (14) und Vincent (12) wurde Walter Baltes für einen Sonntag eingeladen. "Meine Söhne fanden es sehr interessant, mit einem alten Menschen ins Gespräch zu kommen", erzählt Inge Brüggemann. Die drei Jungen waren beeindruckt, was Walter Baltes erlebt und mitgemacht hat. Zu den guten Gesprächen servierten Inge und Guido Brüggemann Rollbraten mit Knödel und Rotkohl. "Wunderbar", stellt Baltes fest.

An vielen Wochenenden war der 95-Jährige nun schon eingeladen, und diese Sonntagsessen seien immer eine Sternstunde für ihn, sagt er. Er freue sich über die Gespräche und die neuen Bekanntschaften — auch zu Vierbeinern. "Eine Familie hatte vier Katzen, und ich liebe Katzen. Das war ein fantastischer Tag. "

Weil Walter Baltes ja den Sonntagsbraten spendieren möchte, steckt er sich vor jeder Einladung 20 Euro in einem Umschlag ein. Doch das ist der einzige Punkt, an dem seine Idee schwächelt: Seine Gastgeber wollen kein Geld. "Die Menschen sind noch besser, als ich dachte", sagt er und wirkt sogar etwas gerührt. Deshalb schiebt er den Umschlag nun immer unauffällig unter den Teller, bevor er mit dem Taxi wieder nach Hause fährt.

(RP)
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