Tradition in Gefahr Warum an St. Martin weniger Kinder an den Türen klingeln

Düsseldorf · Nach dem St.-Martin-Wochenende beklagen viele Menschen in der Region, dass immer weniger Kinder mit ihren Laternen von Haus zu Haus ziehen und Martinslieder singen. Hat keiner mehr Lust auf die Tradition des "Gripschens"? Brauchtumsforscher geben der Distanz zur Religion die Schuld – und Helikopter-Eltern.

Nach dem St.-Martin-Wochenende beklagen viele Menschen in der Region, dass immer weniger Kinder mit ihren Laternen von Haus zu Haus ziehen und Martinslieder singen. Hat keiner mehr Lust auf die Tradition des "Gripschens"? Brauchtumsforscher geben der Distanz zur Religion die Schuld — und Helikopter-Eltern.

Viele Menschen erinnern sich noch daran, wie sie als Kinder in kleinen Grüppchen an St. Martin in der Nachbarschaft von Tür zu Tür zogen. Sie sangen ein Martinslied, dann bekamen sie von den Bewohnern Süßigkeiten geschenkt. "Gripschen" heißt das in Düsseldorf und im Bergischen Land, im südlichen Rheinland "schnörzen", manche nennen es auch "heischen". Wenn man früher Glück hatte, bekam man Schokoriegel und andere Süßigkeiten. Mit Pech landete ein Apfel oder eine Orange im Beutel. So oder so aber leerte man abends seine Tüte, freute sich über die Beute und naschte tagelang davon.

Und heute? St.-Martins-Züge gibt es immer noch, in der vergangenen Woche und am Wochenende waren wieder viele solcher Umzüge auf den Straßen in der Region unterwegs. Nicht immer war ein Pferd dabei, in den meisten Fällen aber ein St. Martin. Auch die Lieder sind noch dieselben wie früher: "St. Martin", "Ich geh' mit meiner Laterne", "Durch die Straßen auf und nieder". Doch eines scheint sich geändert zu haben: Viele Menschen bedauern, dass nicht mehr so viele - oder gar keine - Kinder an ihrer Tür klingeln.

Ob Neuss, Kaarst oder Dormagen: So mancher ist auf seinem Süßigkeitenvorrat für die Martinssänger sitzengeblieben. Selbst in der Nähe von Grundschulen, wo sich die Kinder zum Umzug versammeln, stellen Anwohner fest, dass es nicht mehr so oft klingelt wie früher. In Dormagen-Mitte haben Anwohner in der Nähe einer Grundschule eigens ihre Einfahrten und Haustüren mit Laternen geschmückt, um zu signalisieren, dass jemand zu Hause ist und geklingelt werden darf.

Auch den sozialen Netzwerken wurde das Thema nach dem Martins-Wochenende diskutiert. Eine Nutzerin aus Mönchengladbach schrieb bei Facebook:

Eine andere schrieb in der Gruppe "Du bist Mönchengladbacher, wenn...":

Petra Krechel aus St. Augustin postete:

Die übrig gebliebenen Süßigkeiten wolle sie nun an das Ronald-McDonald-Haus in Sankt Augustin spenden, teilte sie unserer Redaktion mit.

Auch bei Twitter waren die ausgebliebenen Martinssänger ein Thema. Einige Nutzer regten sich auf:

Andere nehmen es mit Humor:

Doch was ist los? Gehen tatsächlich immer weniger Kinder an St. Martin sammeln? Oder ist das subjektives Empfinden? Statistiken dazu gibt es nicht: Niemand erfasst, ob und wie oft Kinder an den Häusern klingeln. Dass die Tradition des Martinssingens zurückgeht, bestätigen jedoch Brauchtumsforscher. "Natürlich ist das auch eine Folge der demographischen Entwicklung", sagt Dagmar Hänel vom LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn. Doch es gibt noch mehr Gründe:

  1. Helikopter-Eltern: "Was ich auffällig finde, ist, dass die Kinder heute in sehr kleinen Gruppen, mit zwei oder drei Kindern, unterwegs sind", sagt Hänel. In diesem Jahr habe sie sogar beobachtet, wie ein einziges Kind mit Mutter, Vater und dem Geschwisterkind im Kinderwagen unterwegs war. "Das Kind hat ganz alleine gesungen", sagt Hänel. Die Kinder würden immer öfter von ihren Eltern begleitet. "Das hat sicherlich etwas mit der allgemeinen Tendenz zu tun, die Kinder stärker zu behüten, sie zu kontrollieren und vor - möglichen wie erdachten - Gefahren zu bewahren", erklärt Hänel. Dabei gehöre zum Martinssingen gerade auch das Moment der Grenzüberschreitung: "Es ist aufregend und spannend, im Dunkeln ohne Erwachsene, nur mit anderen Kindern, durch die Gegend zu ziehen." Das sei vielen Eltern heute aber zu unsicher. "Das ist verständlich und nachvollziehbar. Aber es wirkt sich auf solche Brauchtumsformen unmittelbar aus." Je weniger Kinder es machten, umso mehr werde der Brauch zurückgedrängt.
  2. Mobilität: Laut Hänel entwickeln sich solche traditionellen Bräuche in den Dörfern und Stadtteilen und werden jeweils unterschiedlich gepflegt. Die Mobilität der Menschen habe aber zugenommen: "Man zieht zu, man zieht weg, da kennt man nicht mehr so gut die Tradition des jeweiligen Ortes und beteiligt sich nicht mehr so aktiv daran."
  3. Distanz zum Religiösen: Darin sieht Brauchtumsforscher und St.-Martin-Experte Manfred Becker-Huberti, emeritierter Professor aus Grevenbroich, einen weiteren, wichtigen Grund. "Das Heischen war früher fester Bestandteil der christlichen Kultur. Es gab kein Fest ohne offene Tür. Die Tür musste immer offen stehen, falls jemand in Not vorbeikommt. Je mehr das Christliche in der Gesellschaft erodiert, umso mehr geht auch dieser Bezug verloren", erläutert Becker-Huberti. "Heute sind viele Menschen verunsichert, ob es legitim ist, bei fremden Menschen zu klingeln und betteln zu gehen." Viele sagten sich: Lichterfest ja, aber das Heischen ist unangenehm.
  4. Süßigkeiten sind allgegenwärtig: Fakt ist, dass Süßes heute wesentlich günstiger ist als früher. "Der Konsum von Süßigkeiten ist nicht mehr so das Besondere, sie sind sehr preiswert geworden und gehören für viele Kinder zum Alltag", sagt Hänel. Möglicherweise verliert dadurch auch das Süßigkeiten-Sammeln an St. Martin etwas von seinem Reiz.
  5. Halloween als Konkurrenz? Viele Menschen sehen das Grusel-Spektakel aus den USA als Konkurrenzveranstaltung zu St. Martin, die die religiöse Tradition verdrängt. "Das sehe ich aber nicht so", betont Hänel. Bei Halloween gehe es mehr ums Verkleiden, ums Gruseln. "Das hat weniger mit einem Brauch zu tun, da steht eher der Spaß- und Eventfaktor im Vordergrund. Und das wird auch nicht von den Kitas und Schulen gefeiert wie St. Martin."
(oko)
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