Rheinischer Brauch "St. Martin und der Karneval haben viel miteinander zu tun"

Düsseldorf · Zwei Männer aus Brüggen und Kempen wollen die rheinische Tradition der Martinszüge als immaterielles Kulturerbe der Unesco eintragen lassen. Ob das Sinn ergibt und warum St. Martin eine besondere Tradition ist, erklärt Brauchtumsforscherin Dagmar Hänel im Gespräch.

Frau Hänel, was halten Sie von der Idee, den rheinischen Martinszug zu einem Kulturerbe zu machen?

Dagmar Hänel Ich halte das für eine sehr gute Idee. Es ist ein wichtiger Brauch, der weit verbreitet ist und zur Identitätsentwicklung beiträgt.

Worum geht es beim Brauchtum?

Hänel Bräuche sind immer eine symbolische Handlung, die eine tiefere gesellschaftliche Bedeutung haben. Die Martinsumzüge sind ein Solidarbrauch. Dabei geht es um Zwischenmenschlichkeit. Natürlich hat es auch eine christliche Bedeutung, aber eigentlich geht es um mehr als das.

Dagmar Hänel ist Leiterin der Abteilung Volkskunde des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte.

Dagmar Hänel ist Leiterin der Abteilung Volkskunde des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte.

Foto: LVR-Zentrum für Medien und Bild

Aber eigentlich geht es um den heiligen Martin.

Hänel Aus christlicher Perspektive ja. Ich bin kein Theologe, aber unabhängig davon, was an der Geschichte wahr ist, wird sie in etwa so erzählt: Ein römischer Soldat namens Martin ist im Winter mit dem Pferd unterwegs und begegnet einem Bettler, der furchtbar friert. Obwohl es kalt ist, gibt er dem Bettler einen Teil seines Mantels. In dieser Nacht erscheint dem Soldaten im Traum Christus. Er sagt, er selbst sei der Bettler gewesen. Am nächsten Morgen wusste Martin, dass er sein Leben ändern wollte und wurde Christ.

Und was hat das mit den heutigen Umzügen zu tun?

Hänel Es soll daran erinnern, dass jeder auch eine Verantwortung für andere hat, insbesondere für die Schwächeren. Man merkt das auch an Liedern wie "Laterne, Laterne", in denen es um eine Lichtsymbolik geht, also darum, das Licht in die Welt hinauszubringen. Das ist im Christentum und gerade im Winter von besonderer Bedeutung.

Hat die Kirche sich denn nie gegen diesen Brauch gewehrt?

Hänel Es ist sogar so, dass Betteln im Mittelalter normal war und von der Kirche unterstützt wurde. Früher sprach man auch vom Heischen und nicht vom Betteln. Man muss das geschichtlich sehen: Der 11. November war das Datum vor dem Adventsfasten und am Ende des bäuerlichen Arbeitsjahres. Es war auch der Zeitpunkt des sogenannten Gesindewechsels, das heißt, die Erntehelfer haben ihr Geld bekommen und sind weitergezogen. Vorher haben Menschen, die wenig hatten, an Türen geklopft, etwas gesungen, das Haus gesegnet oder einen Vers rezitiert und dafür Lebensmittel oder auch Geld bekommen.

Und das war so üblich?

Hänel Ja, es war eine Art vormoderne Sozialfürsorge. Der Gedanke war: Von dem, was ich jetzt zu viel habe, gebe ich etwas ab. Und man nannte es heischen, weil es vom Brauchtum legitimiert war. Es handelte sich also nicht um Betteln.

Sind solche Bräuche denn heute noch wichtig?

Hänel Solche Bräuche sind immer wichtig. Brauchtum kommt ja auch von dem Wort brauchen. Allerdings verändern sich Bräuche mit der Zeit. Früher haben es wie gesagt Erwachsene gemacht. Heute werden die Heische-Lieder in der Köln/Bonner-Region von Kindern gesungen, die von Haustür zu Haustür gehen und dafür Süßes bekommen. In Düsseldorf spricht man von Grippschen. Und auch die Martinsumzüge macht man für die Kinder. Das sagt etwas über unsere Zeit und über den gesellschaftlichen Wohlstand aus. Es geht mehr Menschen finanziell besser. Gleichzeitig kann man Kindern auf diese Weise etwas über gesellschaftliche Werte beibringen - und zwar über Symbole und weniger über Worte. Bräuche, die nicht gebraucht werden, sterben übrigens aus.

Warum sterben gerade die Martinsumzüge nicht aus?

Hänel Sie vermitteln ganz unkompliziert ein Wir-Gefühl. Jeder weiß sofort, was zu tun ist. Das bedeutet, dass der Brauch auch interkulturell funktioniert. Er ist ohne viele Worte verständlich und schließt andere schnell in die Gemeinschaft ein.

Der rheinische Karneval ist ja auch immaterielles Kulturerbe.

Hänel Und was viele nicht wissen ist, dass der rheinische Karneval und St. Martin viel miteinander zu tun haben. Beide Tage liegen vor wichtigen Fastenperioden. Vor allem früher ging es in beiden Fällen darum, das Weltliche noch einmal zu feiern, bevor man den spirituellen Verzicht übt.

Beide Bräuche sind dann von der Obrigkeit im Rheinland — also erst von den Franzosen, später von den Preußen — unterdrückt worden, weil sie die Ordnung gestört haben. Und beide wurden im Jahr 1823 wieder zu Leben erweckt.

Wie?

Hänel In diesem Jahr fand der erste Rosenmontagszug statt und der erste Martinskinderzug. Das war das Ergebnis einer bürgerlichen Rückbesinnungsbewegung, die sich nicht mehr unterdrücken lassen wollte. Ich kann Ihnen übrigens auch sagen, wo der schönste Martinszug im Rheinland stattfindet.

Wo?

Hänel In Loikum am Niederrhein. Ich habe dort viel geforscht und auch gefilmt. Es ist ein kleines Dorf von 800 Leuten, für die dieser Brauch eine große Bedeutung hat. Deswegen schmücken sie das Dorf und die Fenster mit Lichtern, Windlichtern, Lampions und beleuchteten Scherenschnitten, und dann gehen 2000 Leute im Martinszug durch das Dorf. Es ist wirklich eine ganz besondere Stimmung.

Mit Dagmar Hänel sprach Susanne Hamann.

(ham)
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