NRW So kämpfen Dörfer gegen das Aussterben

Jülich/Gey/Grieth · In den kommenden 15 Jahren droht den ländlichen Regionen die Verödung. In Hochburgen wie Düsseldorf bleibt der Wohnraum hingegen auch langfristig knapp. Dörfer entwickeln derweil Konzepte, um die Lebensqualität zu steigern.

 Heinz Frey hat das "Dorv-Zentrum" in Jülich-Barmen ins Leben gerufen. Dort kann er nicht nur Wurst und Fleisch kaufen, sondern auch sein Auto anmelden.

Heinz Frey hat das "Dorv-Zentrum" in Jülich-Barmen ins Leben gerufen. Dort kann er nicht nur Wurst und Fleisch kaufen, sondern auch sein Auto anmelden.

Foto: dpa

Früher war das Dorf Grieth wegen seiner günstigen Lage am Rhein ein beliebter Handelsplatz. Heute handelt dort niemand mehr. Grieth hat eine Kirche, aber keinen Supermarkt, keine Gaststätte, keinen Bäcker. Das 800 Einwohner zählende Dorf ist nur Wohnort. Fünfmal täglich fährt ein Bus nach Kalkar. Dort muss man umsteigen, um nach Kleve zu kommen. Doch es tut sich etwas am Niederrhein. Zwei Professoren und eine Gruppe Studenten der Hochschule Rhein-Waal haben Grieth zum Forschungsobjekt gemacht. Das Dorf soll wieder attraktiv werden - damit es nicht ausstirbt.

Denn dieses Schicksal droht vielen Dörfern. Laut einer Hochrechnung der Zukunftsforscher vom Institut Prognos wird die Bevölkerung in NRW bis 2030 um drei Prozent schrumpfen. Dieser Rückgang wird sich nirgends in Deutschland so ungleich verteilen wie in NRW. Denn er wird überlagert von einem anderen Trend: der Landflucht. In den 50ern hielten sich die Stadt- und die Landbevölkerung in Deutschland die Waage. Aber bereits 2012 lebten 75 Prozent der Deutschen in Städten. Der Sozialwissenschaftler Rainer Ohliger vom Netzwerk "Migration in Europa" hat ermittelt, dass von bundesweit 665 Städten mit mehr als 20 000 Einwohnern 424 nur deshalb wachsen, weil sie Menschen aus dem Umland aufnehmen.

 Der Ortsvorsteher von Gey, Helmut Rößeler, vor dem Dorfauto.

Der Ortsvorsteher von Gey, Helmut Rößeler, vor dem Dorfauto.

Foto: dpa

Wenn die Bevölkerung in NRW trotzdem abnimmt, droht den ländlichen Regionen die Verödung. Das versuchen Menschen wie Heinz Frey aus Jülich-Barmen bei Aachen zu verhindern. Dort rief eine Bürgerinitiative 2004 das "Dorv-Zentrum" ins Leben. "Die Bürger können hier ihre Lebensmittel kaufen, ihr Auto zulassen, Pakete oder eine Annonce aufgeben", erklärt er. Alle Dienstleistungen wurden gebündelt, so dass ein großes Zentrum entstanden ist. Auch einen Arzt und ein Café gibt es im Haus. Das Projekt ist so erfolgreich, dass Frey und seine Kollegen Dörfer in ganz Deutschland beraten. Auch in Grieth soll ein solches Zentrum entstehen. "Die Bürger müssen sich engagieren und das Ganze dann unterhalten", erklärt Birgit Mosler, Leiterin des Projektes der Hochschule Rhein-Waal.

Neben der schlechten Nahversorgung sind fehlende Treffpunkte und mangelnde Mobilität große Probleme. Nicht alle lassen sich überall lösen, sagt Frey: "Wir können nicht jedes Dorf retten, das ist wegen des demografischen Wandels nicht möglich. Aber es gibt Orte, die durch eine lebendige Gestaltung wieder attraktiv werden können" - auch für junge Menschen.

Denn die 18- bis 24-Jährigen wohnen besonders gerne in Städten. Gleichzeitig werden die Metropolen für junge Familien, die es früher aufs Land gezogen hat, attraktiver. In Hochburgen wie Düsseldorf bleibt der Wohnraum daher auch langfristig knapp. Welche NRW-Städte besonders stark wachsen, ist an den Miet- und Kaufpreisen absehbar: Neben den wirtschaftlich starken Städten der Rheinschiene (Düsseldorf, Köln, Bonn) sind es vor allem Universitätsstädte wie Münster, die prosperieren. Das städtische Wohnen hat dank komfortabler Infrastruktur und Fortschritten bei der Stadtplanung an Attraktivität gewonnen, erklärt die Bevölkerungswissenschaftlerin Nikola Sander. Zudem locken in den Städten bessere Bildungsangebote und Jobs. Doch auch beim Thema Mobilität sind die Dörfer kreativ. In Gey im Kreis Düren teilen sich die Dorfbewohner ein Elektroauto, das den Zweitwagen ersetzen soll. "Die Arbeitsplätze liegen in den Städten, die Mobilitätskosten steigen, und der ÖPNV ist mangelhaft", sagt Alexander Sobotta vom Leader-Projekt Eifel, das das Projekt in Gey unterstützt. 60 Prozent der Menschen in den Dörfern haben ein Zweitauto, das nur sporadisch genutzt wird. Ein Dorfauto spare Kosten und fördere das Miteinander.

Denn teuer wird es laut den Prognos-Wissenschaftlern dort ohnehin: Wo infrastrukturelle Einrichtungen wie das Abwassersystem oder ein Fernwärmenetz nur von wenigen Anwohnern finanziert werden, steigen die Nebenkosten dramatisch - und können die Bewohner auf Dauer stärker belasten als die tendenziell höheren Mietpreise in der Stadt. Laut Prognos verdoppeln sich die Kosten für die Abwasserbeseitigung in Regionen, in denen die Bevölkerung um mehr als 40 Prozent schrumpft. Bei massiven Bevölkerungsrückgängen seien aber auch negative Auswirkungen auf die Abfallentsorgung oder den öffentlichen Personennahverkehr festzustellen. Ebenso geht das Angebot an privaten und öffentlichen Dienstleistungen in solchen Regionen zurück. Somit würde es "immer teurer und perspektivärmer, in zunehmend unattraktiven Regionen zu leben", beschreibt Prognos den Teufelskreis. "Dies bedingt auf lange Sicht eine stärkere Zuwanderung in die Ballungsregionen, was dort wiederum zu einer zunehmenden Attraktivität und weiterer Zuwanderung führt."

(RP)
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