Erzählung Pauline und ihre blaue Schultüte

Eine Geschichte zum Schulanfang Die Düsseldorfer Autorin Tanya Lieske hat für unsere Zeitung eine Erzählung für Sechs- bis Zehnjährige geschrieben. In der erlebt Pauline ihren ersten Schultag - am Ende barfuß.

 Die zehnjährige Hannah aus Düsseldorf hat das Mädchen Pauline gemalt.

Die zehnjährige Hannah aus Düsseldorf hat das Mädchen Pauline gemalt.

Foto: Repro: RP

Paulines Schultüte ist blau mit bunten Punkten. In den letzten Wochen im Kindergarten, als niemand mehr so richtig Lust auf Kindergarten hatte, jedenfalls Pauline nicht und auch nicht ihre Freunde Franzi, Max, David und Aysegül, da haben sie Schultüten gebastelt. Die von Aysegül ist noch schöner als Paulines, sie ist nämlich gelb mit Schmetterlingen. Aysegül ist Paulines aller-allerbeste Freundin, und deshalb findet Pauline es in Ordnung, dass ihre gelbe Schultüte so viel schöner geworden ist. Bei Paulines Tüte sind ein paar Punkte verrutscht, und unten ist sie nicht ganz zu. "Macht nichts", hat Oma gesagt. "Schultüten sind wie Leute, jede ist ein bisschen anders." Opa findet das auch: "So eine schöne Tüte. Darf ich die morgen tragen?"

Pauline sagt nein. Es ist ihre Tüte, und die will sie schon selber tragen.

Was genau in der Tüte drin ist, weiß Pauline am nächsten Morgen nicht, denn Mama hat die Tüte oben zugebunden. Aber sie ist schwer! Nur unten, wo die Pappe nicht ganz klebt, sieht Pauline ein weißes Stück Papier.

Sie sind spät dran, denn alle mussten noch ins Bad und frühstücken. Dann gibt es noch ein Familienfoto vor dem Haus. Das macht ihr Nachbar Herr Jansen. "Freust du dich denn auf die Schule?", fragt er Pauline. Das hört sie in letzter Zeit ständig. Es ist eine komische Frage, denn natürlich freut sie sich auf die Schule. Was sonst? Pauline will endlich rechnen können, auch große Zahlen. Sie will wissen, was hinten auf der Puddingpackung steht. "Immer das Gleiche", sagt Mama, aber Pauline ist sich sicher, dass das nicht stimmt. Sie will auch die Postkarten lesen, die Opa ihr manchmal schickt.

Dann gehen sie los. Pauline kennt den Weg zur Erich-Kästner-Grundschule schon lange: Krumme Straße, Hauptstraße, Marktplatz, dann ein Stück Richtung Kindergarten, und dann ab nach rechts. Auf dem Marktplatz ist viel los, richtig viele Familien sind unterwegs, und alle wollen sie zur Schule. Pauline sucht in der bunten Menge nach Gelb, denn das ist Aysegüls Lieblingsfarbe. Aysegül war den ganzen Sommer über in der Türkei. Sie war so lange weg, dass Pauline es kaum ausgehalten hat! Pauline würde jetzt gerne schneller gehen, aber ihre Tüte wird mit jedem Schritt schwerer. Außerdem hat Pauline nagelneue Turnschuhe an. "Die dehnen sich noch", hat die Verkäuferin gesagt, und das fand Pauline auch.

Jetzt entdeckt Pauline am Marktbrunnen eine gelbe Schultüte. "Nimm du mal", sagt sie und reicht Opa ihre Schultüte. "Mit Vergnügen", sagt Paulines Opa.

"Aber nur kurz", sagt Pauline und rennt los. Sie ist fast so schnell wie immer, nur ihre Schuhe drücken jetzt noch etwas mehr. Die meisten Leute hier sind viel größer als sie. Eine Handtasche versperrt ihr den Weg. "Aysegül!" ruft sie. "Hier", antwortet eine Stimme. Pauline läuft der Stimme nach und findet die gelbe Schmetterlingstüte. Dort steht aber nicht ihre Freundin, sondern ein Mann mit runder Brille und Schnauzbart. Der lächelt sie an. "Du bist bestimmt Pauline?"

"Ja", sagt Pauline.

"Ich bin Aysegüls Opa."

"Und ich bin Paulines Opa" sagt Paulines Opa, der ganz schön flink sein kann, wenn es drauf ankommt. "Haben Sie aber eine schöne Schultüte."

"Sie ist fast so schön wie Ihre Schultüte", sagt Aysegüls Opa bescheiden.

"Wo ist Aysegül?", fragt Pauline.

"Schon in der Turnhalle. Sie hält dir einen Platz frei", sagt Aysegüls Opa.

"Gibt es in Ihrer Heimat auch Schultüten?", fragt Paulines Opa.

Pauline zerrt an Opas Hand, aber Opa bleibt jetzt lieber stehen.

"Leider nein", sagt Aysegüls Opa. "Bei uns gibt es keine Schultüten."

"Wie schade", sagt Paulines Opa.

"Sehr schade."

"Ich laufe schon mal vor", erklärt Pauline. Dann setzt sie sich hin und zieht ihre Schuhe aus. Sie bindet sie an den langen Schnürsenkeln zusammen und gibt sie ihrem Opa.

"Halt mal", sagt sie.

"Ist gut", sagt Opa.

Pauline sprintet los, so leicht und schnell wie nie. Unter ihren Füßen spürt sie die warmen Pflastersteine. Am Eingang der Erich-Kästner-Grundschule warten Mama und Oma, beide sehen genervt aus. "Wo ist Opa?", fragt Mama. "Wo ist deine Schultüte, und wo sind deine Schuhe?

"Kommen alle gleich", sagt Pauline.

Dann gehen sie endlich durch das Schultor.

Sie folgen dem Menschenstrom zur Turnhalle. Aysegül sitzt in der Mitte, sie winkt und lacht und hat Pauline einen Platz freigehalten. Das ist gut, denn es ist sehr voll. Die großen Fenster sind weit offen, und auf den Fensterbänken sitzen Eltern und Großeltern, Geschwister, Onkel und Tanten.

Ganz vorne in der Turnhalle tanzen riesig große, bunte Buchstaben hin und her. Es klingelt, und jetzt reihen sie sich auf zu einem Satz.

WILLKOMMEN IN DER SCHULE.

"Sieht super aus", sagt Pauline und drückt Aysegüls Hand.

"Supersuper", sagt Aysegül.

"Was steht denn da?", fragt Pauline.

"Irgend was mit Schule", sagt Aysegül, aber das war jetzt geraten.

Später stehen sie nebeneinander auf der Treppe.

Es gibt noch mehr Fotos.

Und noch viel später, also viele Jahre nach diesem ersten Schultag in der Erich-Kästner-Grundschule, an einem Tag, an dem Pauline, sagen wir mal, ihr Zimmer aufräumt (was nicht zu oft vorkommen wird) - an diesem Tag findet sie vielleicht ein altes Foto.

Zwei beste Freundinnen stehen auf der Schultreppe und blinzeln in die Sonne. Eine hat ein gelbes Spitzenkleid an. Die andere ist barfuß.

Obwohl es ihr erster Schultag ist, hat keine von ihnen eine Tüte im Arm.

Ihre Schultüten spazieren zur selben Zeit auf dem Schulhof herum. Was die beiden Opas miteinander zu reden hatten, weiß Pauline bis heute nicht. Aber sie weiß noch sehr genau, was in ihrer Tüte war: Gummibärchen, Mäusespeck und Schokoriegel, das volle Programm. Und ganz unten, damit nichts rausfallen konnte aus der Tüte, lag ein Zettel.

Liebe Pauline,

ich wünsche dir alles Gute in der Schule. Mach einfach weiter, wenn dir mal ein Punkt verrutscht.

Alles Liebe, Dein Opa.

PS: Deine Schultüte ist wunderschön.

Den Zettel hat Pauline heute noch. Und sie kann ihn lesen. Jederzeit.

INFO Tanya Lieske ist Journalistin, Autorin und Moderatorin. Sie schreibt für Kinder und für Erwachsene und lebt in Düsseldorf. www.tanyalieske.de

(RP)
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