Estland Vorbild auch für NRW? Warum kostenfreier Nahverkehr in Tallinn so gut funktioniert

Düsseldorf/Tallinn · Was in Bonn und Essen demnächst ausprobiert werden könnte, funktioniert in der estnischen Hauptstadt Tallinn seit fast fünf Jahren: Anwohner können dort Bus und Bahn fahren, ohne zu bezahlen. Warum klappt das dort so gut?

 Was in einigen deutschen Städten nun getestet werden soll, gilt in der estnischen Hauptstadt Tallinn schon seit 2013: kostenloser Nahverkehr für Anwohner.

Was in einigen deutschen Städten nun getestet werden soll, gilt in der estnischen Hauptstadt Tallinn schon seit 2013: kostenloser Nahverkehr für Anwohner.

Foto: dpa, mku pil

Während bei den Verkehrsverbünden in NRW die Ticketpreise nahezu jährlich steigen, müssen sich Pendler in der estnischen Hauptstadt über so etwas nicht ärgern. In Tallinn können seit 2013 alle registrierten Bewohner gratis Busse und Bahnen nutzen. Touristen müssen weiter bezahlen. Ein Modell, das sich trotz finanzieller Bedenken am Anfang als erfolgreich erwiesen hat.

Die Stadtverwaltung setzte damals auf einen Anreiz. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt Allan Alaküla, warum das funktioniert hat. Alaküla arbeitet in der Stadtverwaltung und repräsentiert Tallinn bei der EU. Er ist ein Verfechter des Gratis-Nahverkehrs.

Herr Alaküla, hierzulande streitet man hauptsächlich darüber, wie man kostenfreien Nahverkehr in ausgewählten Städten finanzieren soll. In Tallinn haben Sie damit aber keine Probleme - im Gegenteil. Warum?

Allan Alaküla Das hängt damit zusammen, dass wir unser Modell durch Steuern finanzieren. Seit 2013 sind die angemeldeten Einwohner auf über 445.000 gestiegen. Durch diese neuen Einwohner haben wir jetzt höhere Steuereinnahmen, die nahezu vollständig die anfallenden Kosten für den freien Nahverkehr decken.

In Deutschland wird der Nahverkehr auch subventioniert. Hier wird er trotzdem immer teurer.

Alaküla Gratis Bus und Bahn zu nutzen, ist ein Anreiz für Zugezogene, sich in Tallinn als Bewohner zu registrieren und somit dort Steuern zu zahlen. Die Summe, die uns im städtischen Haushalt durch die Umstellung fehlte, konnten wir fast doppelt ausgleichen. Zwölf Millionen fehlten, mittlerweile haben wir 22 Millionen Euro mehr an Steuereinnahmen.

Welche Verkehrsmittel sind gratis?

Alaküla Frei sind nur die Bus- und Bahnlinien innerhalb des Stadtgebiets, die auch vorher öffentlich subventioniert wurden. Intercity-Busse und -Züge kosten weiterhin Geld. Ab Juli 2018 sollen zusätzlich die Regionalbusse gratis zu nutzen sein - für alle. Das erhöht den Druck für die Stadt, Touristen auch in Tallinn kostenfrei fahren zu lassen. Um für Touristen attraktiver zu werden, wäre das wünschenswert.

Warum wurde der kostenfreie Nahverkehr in Tallinn eingeführt?

Alaküla Die Stadtverwaltung hat sich aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen dafür entschieden. 2012 gab es eine Befragung, in der sich drei Viertel der Bewohner Tallinns dafür ausgesprochen haben. Damals litten viele Esten unter der Finanzkrise, für viele wurde es ein Problem, die Ticketpreise zu bezahlen. Tallinn wird dadurch sozialer, es gibt mehr öffentlichen Raum, und gleichzeitig gibt es weniger Autos, dadurch weniger Lärm und Luftverschmutzung in der Stadt. Das macht attraktiv. Dazu kam, dass der Nahverkehr ohnehin zu einem sehr hohen Anteil bereits öffentlich subventioniert war - der nächste Schritt war dann die vollständige Kostenfreiheit.

Wenn die Stadt nun mehr Einwohner zählt, dann bedeutet das doch auch, dass man die Kapazitäten erweitern muss - und das kostet auch Geld.

Alaküla Das ist richtig. Aber so viel ist das nicht. Wir mussten die Kapazitäten nur um rund zehn Prozent aufstocken. Das meiste Geld investieren wir in bessere Qualität, dass die Busse sauberer werden und komfortabler. Wir fahren mit erheblich höherer Auslastung. Die Busse und Bahnen sind voll, aber nicht überfüllt. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht lohnt sich das viel eher, als mit halbleeren Fahrzeugen zu fahren.

In Deutschland würde das Tallinn-Modell nicht ohne Weiteres funktionieren. Nur wenige Steuern zahlen Bürger an die Kommunen. Was würden Sie deutschen Städten empfehlen, die über einen kostenfreien Nahverkehr nachdenken?

Alaküla Es gibt viele Modelle, die sich anbieten und eventuell funktionieren könnten. Es kommt immer auf die Ziele an, die man damit erreichen möchte. Ich sehe ein, dass unser Finanzierungsmodell für deutsche Städte nicht 1:1 übertragbar ist. Wenn das Ziel weniger Luftverschmutzung ist, könnte man den Nahverkehr stundenweise für Pendler kostenfrei anbieten. Oder nur an bestimmten Tagen.

Sehen Sie Grenzen bei der Auslastung in Ihrem System?

Alaküla Solange wir mehr Steuerzahler gewinnen, sehe ich grundsätzlich erst einmal keine Grenzen. Wird der Nahverkehr auch in anderen Regionen kostenfrei, könnte das dazu führen, dass mehr Menschen wieder aufs Land ziehen. Das wird sich aber ausbalancieren.

(heif)
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