Einsam im Alter Wenn alle Freunde und Verwandten fort sind

Düsseldorf · Seit 16 Jahren wohnt Jürgen Lemacher allein. Besuch bekommt der 76-Jährige so gut wie nie, Kontakt hat er fast nur mit Pflegepersonal. Wissenschaftler warnen: Wer einsam lebt, kann körperlichen Schaden nehmen.

 Jürgen Lemacher hat in der Nähe keine Freunde und Verwandten mehr. Er lebt zurückgezogen in einer kleinen Wohnung mit Blick ins Grüne.

Jürgen Lemacher hat in der Nähe keine Freunde und Verwandten mehr. Er lebt zurückgezogen in einer kleinen Wohnung mit Blick ins Grüne.

Foto: Andreas Bretz

Er liebt Eisbein, Erbsensuppe, dicke Bohnen und Nierchen. "Die deftige deutsche Küche eben", sagt Jürgen Lemacher und lacht. Am liebsten setzt sich der 76-Jährige dafür in die Gaststätten der Düsseldorfer Altstadt. "Derzeit kann ich wegen einer entzündeten Operationsnarbe am Rücken aber leider nicht raus", erzählt er.

Lemacher lebt seit 16 Jahren im Betreuten Wohnen des Düsseldorfer Caritasverbandes. Er leidet an Skoliose, einer Wirbelsäulenverkrümmung, kann sich also schlecht fortbewegen, hat starke Schmerzen und ist daher auf Hilfe angewiesen. Bis zu seinem 60. Lebensjahr lebte der Mann mit seinen Eltern in Düsseldorf-Unterrath. Dann starben Vater und Mutter, Lemacher verkaufte das Elternhaus und zog ins Betreute Wohnen am Düsseldorfer Rheinufer nahe der Innenstadt. "Ich fühle mich wohl hier, denn ich kann ins Grüne gucken, es ist also wie früher", sagt er und zeigt auf die kleine begrünte Terrasse seiner Erdgeschosswohnung, die aus einem Wohn- und Esszimmer mit Küchenzeile, einem Schlafzimmer, einem Bad und einem kleinen Eingangsbereich besteht. Hier lebt der 76-Jährige allein, Frau oder Kinder hat er keine. Seine elf Jahre jüngere Schwester lebt in Portugal. "Sie verträgt das Klima hier nicht", so Lemacher. Kontakt haben sie nicht. Dafür telefoniert er von Zeit zu Zeit mit seiner Cousine.

Einsamkeit in Deutschland

Mehr als fünfeinhalb Millionen Menschen über 65 Jahre lebten laut Statistischem Bundesamt 2016 in Deutschland allein, mehr Frauen als Männer. Nach Angaben des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) hat jeder vierte alte Mensch nur noch einmal im Monat Besuch von Freunden und Bekannten. "Der Stellenwert von Ehe und Familie hat während der vergangenen Jahrzehnte abgenommen, und entsprechend hat die Einsamkeit der Menschen zugenommen", sagt der Gehirnforscher Manfred Spitzer, Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik Ulm und des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen. Unter dem Titel "Einsamkeit, die unerkannte Krankheit", hat der Professor gerade ein Buch zum Thema veröffentlicht. Darin fordert er, Einsamkeit nicht länger als "Nebensache" abzutun. Es handle sich um eine Krankheit, denn Untersuchungen belegten: Wer einsam ist, erkrankt häufiger als andere an Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Depressionen und Demenz.

Das bestätigt auch eine Studie aus dem Jahr 2016 der Psychologie-Professorin Maike Luhmann von der Ruhr-Universität Bochum. Besonders ältere, kranke Menschen, die kaum noch ihr Haus verlassen könnten, seien von Einsamkeit betroffen. "Ein Teufelskreis, denn soziale Isolation kann Krankheiten wie Depression oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen", sagt Luhmann. Ab 86 Jahren, wenn körperliche Gebrechen und der Tod von Wegbegleitern oft Realität sind, klage jeder Fünfte darüber, heißt es in der Studie der Wissenschaftlerin. Und auch eigene Kinder seien keine Garantie gegen Einsamkeit. "Gerade dann nicht, wenn sie selber Kinder haben oder weit weg wohnen", sagt Luhmann. Ein Freundeskreis könne dies aber auffangen.

Wenig Kontakt mit den Nachbarn

Der 76-jährige Jürgen Lemacher bekommt auch von Freunden keinen Besuch, seine sozialen Kontakte sind begrenzt: Während des Mittagessens in der Altstadt kommt es ab und an zu einem Plausch, an anderen Tagen beschränken sich die Kontakte auf die Besuche der Häuslichen Dienste der Caritas. "Täglich kommen die Pfleger oder Pflegerinnen in die Wohnung des Rentners und helfen ihm im Haushalt, bei der Körperpflege und der Wundversorgung. Außerdem reden sie etwas mit ihm", sagt Anna Zemaitis, Teamleiterin der Häuslichen Dienste.

Das Betreute Wohnen am Rheinufer besteht aus 27 weiteren Einheiten, die entweder von Einzelpersonen, teilweise aber auch von Paaren bewohnt werden. Kontakt hat Lemacher mit den Nachbarn kaum. Ein Mal pro Woche besucht er aber ein Gedächtnistraining, wo er auf seine Nachbarn und Bewohner des angrenzenden Pflegeheims trifft. Andere Freizeitangebote der Einrichtung nimmt er nicht wahr. Lieber hört der 76-Jährige Radio. WDR 3 ist sein Lieblingssender. "Außerdem habe ich meine Plattensammlung mit klassischer Musik mit hierher genommen", so Lemacher. "Die höre ich mir auch sehr gerne an." Langeweile habe er nicht.

Einsamkeit im Alter ist auch zu einem Thema in der Politik geworden. Nachdem in Großbritannien ein Regierungsposten gegen Einsamkeit eingerichtet worden ist, fordern auch deutsche Politiker mehr Einsatz im Kampf gegen das Alleinsein. Erst im Januar sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach: "Die Einsamkeit in der Lebensphase über 60 erhöht die Sterblichkeit so sehr wie starkes Rauchen." Es müsse für das Thema einen Verantwortlichen geben, bevorzugt im Gesundheitsministerium, der den Kampf gegen die Einsamkeit koordiniere, forderte Lauterbach. Auch Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sieht einen Bedarf an mehr politischem und gesellschaftlichem Engagement gegen Einsamkeit. "Wir brauchen ein Bündnis aus Politik und gesellschaftlichen Gruppen, wie Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Sportvereinen und kulturellen Einrichtungen."

(sno)
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