Praxisaufgabe in Wuppertal Herr Doktor sagt Tschüss

Wuppertal · Erste Anlaufstelle im Krankheitsfall ist meist der Hausarzt. Der Wuppertaler Gerd Lutterjohann gibt seine Praxis nach 30 Jahren auf. Er hat seine Rolle als Lotse in einem System begriffen, das den Menschen allmählich aus den Augen verliert.

 "Wenn der Patient bei mir sitzt, denke ich an ihn, nicht an das volle Wartezimmer": Gerd Lutterjohann.

"Wenn der Patient bei mir sitzt, denke ich an ihn, nicht an das volle Wartezimmer": Gerd Lutterjohann.

Foto: stephan köhlen

Für Gerd Lutterjohann stand nie die Diagnose im Mittelpunkt, sondern immer der Patient. "Wir heilen heute oft Krankheiten, nicht mehr den Menschen", sagt der Arzt mit kritischem Blick auf den Zustand unseres Gesundheitssystems. Fast 30 Jahre führte Lutterjohann seine Wuppertaler Hausarzt-Praxis, davor arbeitete er in Krankenhäusern, nun geht er mit 68 Jahren in den Ruhestand. Drei Jahrzehnte war er erste Anlaufstelle bei harmlosen Wehwehchen und ernsten Erkrankungen, bei Kummer und Einsamkeit, bei Ängsten und Schmerzen, das prägt, fordert, verändert. Drei Jahrzehnte Hausarzt - Zeit für eine letzte Konsultation.

Arzt zu sein, sei ein erfüllender Beruf, sagt Lutterjohann, nach wie vor. Ein Beruf, der sich vergleichsweise am wenigsten von sich selbst entfremdet habe. Dürfte er sich entscheiden, er würde gerne das meiste noch einmal genauso machen. "Aber ich könnte es nicht", schränkt er ein. Die Medizin habe sich zu sehr spezialisiert und ökonomisiert, es gehe sehr oft nicht mehr um den Menschen, sondern um Diagnosen. Danach werde, vor allem in Krankenhäusern, abgerechnet und bezahlt. "Alles Drumherum ist nicht von Interesse, obwohl es den Patienten ausmacht."

"Ich habe ihn mehr als Heiler gesehen"

Lutterjohanns Wege, Vorstellungen und Ziele waren andere. Sein Vater war Betriebsarzt in Salzgitter, in seiner Praxis gingen die Bergleute ein und aus. "Ich habe ihn mehr als Heiler gesehen", sagt Lutterjohann. Für ihn stand bald fest, dass er das auch wollte - anderen Menschen helfen, sie wenn möglich zu heilen, wovon auch immer. Und wo auch immer. Lutterjohann träumte davon, in Burma oder Kambodscha zu arbeiten, erkannte aber schnell: Individuelles Elend gibt es ebenso in der Heimat, und auch hier brauchen die Menschen einen Arzt.

Wer viel helfen will, benötigt breites Wissen. Lutterjohann entdeckte als Assistenzarzt die Innere Medizin für sich, erst im Alfried-Krupp-Krankenhaus in Essen, dann im St. Josef in Wuppertal. Innere, das bedeutete damals ein weites Spektrum von Herz, Magen-Darm über Leber, Nieren, Lunge bis zu Radiologie und Intensivmedizin - vieles also, für das es heute Spezialisten gibt. Zwölf Jahre wirkte Gerd Lutterjohann im Krankenhaus, zuletzt als Oberarzt. "Menschlich und fachlich brauchte ich diese Zeit", sagt er rückblickend. Aus dem Krankenhaus trieb ihn auch der unzureichende Kontakt zu den Patienten.

Von denen hatte er dann in der Praxis mehr als genug, am Anfang rund 1200 pro Quartal. Ein Pensum, das Lutterjohann heute nicht mehr schaffen würde. Schon damals fing er an, die Patientenschar langsam zu reduzieren. "Damit ich denen gerecht werden konnte, die ich hatte, und damit ich mich selbst wohlfühlte", sagt er. Was egoistisch klingt, kam auch den Hilfesuchenden zugute. Und der Familie. Denn selbst als Arzt besitzt man ein Privatleben. Lutterjohann hat drei Kinder, die, wie er sagt, oft zu kurz gekommen seien; seine Frau habe ihm stets den Rücken freigehalten und damit vieles erst ermöglicht.

Sein Ansatz war es, erzählt Lutterjohann, den Patienten zu verstehen. Dann erst könne er Blutwerte oder Ultraschallergebnisse einordnen, könne er begreifen, warum jemand sich unwohl fühlt. Oder dass der Grund, weshalb ein Mensch in der Praxis sitzt, ein anderer ist als der von ihm genannte. "Das waren immer die schönsten Momente: Wenn ich wusste, ich habe einen Patienten verstanden." Eine langjährige, alte Patientin mit eigentümlicher Atemstörung und unauffälligem EKG und Labortest ließ er sofort in eine Klinik bringen - sie hatte eine Lungenembolie. Lutterjohann kannte sie gut, und er wusste, dass trotz ihres guten Zustandes die Situation ernst war.

Technik auf das Nötigste reduziert

Die Praxis im Wuppertaler Osten passt zu dem Arzt. Sie ist auf angenehme Weise altmodisch, die Räume sind klein, die Technik ist auf das Nötigste reduziert. Was zählt, ist der Kontakt zum Arzt. "Wenn der Patient bei mir sitzt, denke ich an ihn, nicht an das volle Wartezimmer", sagt Lutterjohann, gesteht aber ein, dass das nicht immer gelinge. Und dass er diese Haltung auch lernen musste. Aber es sei eben wichtig, sich bei seiner Arbeit Mühe zu geben. "Wenn man seinen eigenen Ansprüchen nicht genügt und einem Patienten nicht helfen kann, dann schmerzt das."

Lutterjohanns Ansatz war und ist es, nicht Leben um jeden Preis zu verlängern, sondern dabei zu helfen, Leid zu verringern. Das hat auch stark mit seiner buddhistischen Prägung zu tun. Alles ist vorübergehend, heißt es im Buddhismus, und zum Leben gehören Schicksalsschläge dazu. "Sterbebegleitung etwa zählt zu den dankbarsten Aufgaben eines Arztes", sagt Lutterjohann. Es sei befriedigend, sich um einen Patienten bis zum Ende intensiv kümmern zu können.

Generell aber sieht sich Lutterjohann in der Rolle desjenigen, der anderen Menschen mit seiner Berufs- und Lebenserfahrung weiterhilft. "Ein großer Teil meiner Arbeit besteht aus Erziehungsfragen", sagt er, "aus dem Versuch, Patienten zu motivieren, ihren Lebensstil zu ändern." Mit dem Internet kam auch die Aufgabe hinzu, dort angeeignetes Wissen einzuordnen. Kommen die Kranken doch oft mit vorgefassten Meinungen, auch Diagnosen, und schlimmsten Befürchtungen. "Ich habe nichts gegen einen informierten, aufgeklärten Patienten", sagt Lutterjohann. "Aber als Laie fehlt ihm in der Regel die Distanz, das richtig zu bewerten."

Drei Jahrzehnte als Hausarzt, das ist aber auch eine Geschichte des Verlustes. Mit den Reformen des Gesundheitssystems verringerten sich die Leistungen, die Lutterjohann anbieten und abrechnen konnte. Was schwerer wiege, sei jedoch der Umstand, dass in Großstadtkrankenhäusern der Patient als einheitlicher Mensch immer weniger wahrgenommen werde. Das habe Folgen für die Ausbildung der künftigen Hausärzte. Statt auf Generalisten setze das System auf Spezialisten, die zwar in ihren Fachgebieten sehr gute und wichtige Arbeit leisten, aber oft das Ganze aus den Augen verlieren. "Als Lotse im Gesundheitssystem müsste die hausärztliche Leistung viel mehr gefördert werden", sagt Lutterjohann. "Dadurch ließen sich Kosten sparen und unnötiges Spezialistentum verhindern." Er setzt eher auf Aufklärung und Selbstheilungskräfte statt auf teure Tabletten und rechnet vor, dass er den Krankenkassen im Vergleich zu anderen Hausärzten rund 50.000 bis 80.000 Euro pro Jahr an Medikamentenkosten erspart. Ein Dankeschön dafür gibt es nicht. Im Gegenteil: Der Hausarzt alter Schule ist ein Auslaufmodell.

Nur klagen will Lutterjohann deshalb aber nicht. Unser Gesundheitswesen sei besser als in fast allen anderen Ländern dieser Welt, sagt er. Die Erziehung zu einem gesunden Leben müsse aber bereits in der Schule stärker gefördert werden. "Was wir brauchen, ist mehr Selbstverantwortung", sagt er. Lutterjohann hat in den vergangenen Jahrzehnten vor allem Verantwortung für andere übernommen. Die gibt er nun zum 1. April 2018 ab. Zunächst stückweise, zwei halbe Tage will er noch ran. Denn aufzuhören, sagt er wenig buddhistisch, "war dann anfangs doch eine Schreckensvision". Gemildert von der Gewissheit, dass er eine Nachfolgerin hat - die seinen Weg fortsetzen will.

(RP)
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