Krisen-Reaktor Tihange Aachen übt den atomaren Ernstfall

Aachen · 60 Kilometer Luftlinie liegen zwischen dem belgischen Atomkraftwerk Tihange und der Stadt Aachen. Jenseits der Grenze herrscht ein Gefühl relativer Sicherheit - diesseits der Grenze bereiten sich die Aachener auf das Worst-Case-Szenario vor. Ein Ortsbesuch.

Belgien, zwei Kilometer. Das steht auf dem Autobahnschild kurz vor der Ausfahrt Roetgen. Von dort sind es noch zehn Minuten Fahrt auf einer Landstraße, die auf und ab geht wie eine große Skateboard-Piste. Die Gemeinde Roetgen — "Das Tor zur Eifel", wie sie sich selber nennt — hat etwa 8200 Einwohner. In den Scheiben des Bürgersaals spiegelt sich die Abendsonne, ein Plakat mit der Aufschrift "Tihange abschalten" hängt im Fenster. Der Ortsverband der Grünen hat an diesem Tag zu einer Informationsveranstaltung eingeladen.

Der Wind weht in Richtung Aachen

Wilfried Duisberg hält gerade einen Vortrag darüber, wie man sich auf einen atomaren Zwischenfall vorbereitet und wie man sich im Ernstfall verhalten sollte. Der Arzt im Ruhestand engagiert sich seit 1983 für eine internationale Ärzte-Organisation gegen den Atomkrieg. 30 Jahre lang hat er eine Hausarztpraxis in Kornelimünster bei Aachen geführt. Die Nachrüstungsdebatte zu Beginn der 80er-Jahre hat ihn zu einem Gegner der Atomkraft gemacht.

Tihange liegt 66 Kilometer südwestlich von Roetgen. Aus dieser Richtung weht meistens auch der Wind. "Dahin, wo wir sind", sagt Duisberg. Das bedeutet: Falls wegen eines Störfalls radioaktive Stoffe aus den Reaktordruckbehältern entweichen sollten, würden die Partikel mit der Luft nach Deutschland geweht. Bei einer durchschnittlichen Windgeschwindigkeit von 15 Kilometern pro Stunde bräuchte die radioaktive Wolke vier Stunden, bis sie Aachen erreicht. Duisberg spricht auch von den Haarrissen, die man 2012 und 2013 in Tihange und dem anderen belgischen AKW Doel entdeckte - und deren halber der nordrhein-westfälische Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) von "Bröckel-Meilern" spricht.

Wie man sich auf den Ernstfall vorbereitet
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Foto: Christoph Reichwein

Längst interessiert das Thema "Tihange" in Aachen nicht mehr nur Grüne und Atomkraftgegner. Die Stadtverwaltung hat im Dezember den Einsatz eines Krisenstabs im Fall eines atomaren Unfalls geprobt und Jod-Tabletten für die Bevölkerung angeschafft. Eine Klage gegen den Weiterbetrieb von Tihange liegt beim höchsten belgischen Verwaltungsgericht. Die Menschen in der Region machen sich Sorgen - das zeigt auch die Zahl der Teilnehmer an diesem Abend. Der Saal ist fast bis auf den letzten Stuhl besetzt, Nachzügler finden noch irgendwo ein Plätzchen am Rand. Auf den Sitzen liegen Zettel mit Hinweisen, wie man hochdosierte Jod-Tabletten nach einem atomaren Unfall einnimmt.

300.000 dieser Jod-Tabletten lagern in der Apotheke der Uni-Klinik Aachen. Sollte es tatsächlich zu einem atomaren Unfall kommen, müssten sie zügig in der Bevölkerung verteilt werden. Deswegen arbeite man gerade daran, die Tabletten dezentral in Feuerwehrwachen, Schulen und Kindergärten zu lagern, heißt es bei der Stadtverwaltung.

Atemmasken für die ganze Familie

Peter Laws ist nicht darauf angewiesen. Er hat selbst schon zwei Packungen in der Apotheke gekauft. Der Familienvater bezeichnet die Jod-Tabletten als "Beruhigungspillen". Auch im Fenster seiner Wohnung am Rande der Aachener Innenstadt hängt ein "Tihange-Abschalten"-Plakat. Wenn man die Pillen rechtzeitig nimmt, verhindern sie, dass sich radioaktives Jod in der Schilddrüse ablagert. Sie bieten dadurch Schutz vor Schilddrüsenkrebs. Aber das reicht nicht aus, sagt der Vater von zwei Töchtern im Teenageralter, der von seiner Frau getrennt lebt. "Erstens können die Pillen starke Nebenwirkungen haben, zweitens muss man verhindern, dass radioaktive Partikel über die Schleimhäute, Atemwege und Haut in den Körper gelangen." Deswegen hat Laws für seine Familie Atemmasken mit Luftfilter angeschafft, die auch Kleinstbestandteile abhalten. Dazu Schutzbrillen und je zwei Ganzkörperanzüge. "Maximal 20 bis 25 Euro kostet die Ausrüstung pro Person", sagt Laws.

Seine Kinder haben Atemmasken in ihren Schultaschen, sie wissen auch, was zu tun ist, wenn die Sirene geht. "Wenn es in der Schulzeit passiert, ziehen die Kinder die Maske an und kommen nach Hause. Ich habe in der Zwischenzeit schon die Wohnung mit handelsüblichen Bauschaum abgedichtet", sagt Laws. In der Wohnung hält er außerdem Kerzen, Batterien und einen Vorrat Wasser und Tomatenkonserven bereit. Im Regal stehen auch mehrere Packungen haltbare Schokomilch.

Der selbstständige IT-Spezialist ist keiner, der den Weltuntergang herbeiredet. Sachlich und ruhig kann er jedes Detail seiner Schutzmaßnahmen erklären. Auch mit der Funktionsweise eines Kernkraftwerks und der Zahl der Störfälle in den belgischen AKWs ist er genau vertraut. Aufgeräumt ist seine Wohnung, und aufgeräumt wirkt auch er selbst, kein Hysteriker. Laws ist auch kein politischer Aktivist. Für ihn ist das Atomkraftwerk in der Nähe seines Zuhauses eine existentielle Bedrohung, wie er selbst sagt. Laws zweifelt an der Sicherheit der belgischen AKWs, seit die Haarrisse entdeckt wurden und die deutsche Politik sich in seinen Augen nicht genug kümmert.

Als die Stadt Aachen im Dezember die Arbeit des Krisenstabs für ein Katastrophenszenario übte, traf Laws seine eigenen Schutzmaßnahmen. "Mir geht es vor allem darum, dass meine Kinder geschützt sind und keine Angst haben." Wenn es nach ihm ginge, wären alle Schulen und Kindergärten mit Atemmasken ausgestattet.

Er hat sich auch Gedanken über eine Flucht gemacht. Im Ernstfall will Laws zwei Tage lang mit seinen Kindern zu Hause zu bleiben, bis sich das erste Chaos gelegt hat. Danach hat er vor, mit seinen Kindern im Auto wegzufahren - im Schutzanzug und mit Atemmaske. Seine Route führt ihn gegen den Wind in einem großen Bogen um Aachen herum nach Süden.

Erster Reflex der Aachener wäre die Flucht

Damit verhält sich Laws vorbildlich, wenn man Experten fragt. Denn der erste Reflex vieler Aachener werde die Flucht sein. Deswegen bereite man sich für den Katastrophenfall auf ein Verkehrschaos vor, heißt es bei der Stadt. Natürlich geht hier niemand davon aus, dass es zum GAU kommt. Aber auch durch ein winziges Leck im Reaktordruckbehälter könnte Radioaktivität entweichen. Wie wahrscheinlich so ein Unfall ist, will keiner sagen — weder das Bundesumweltministerium noch die Wissenschaftler. Gut möglich, dass es nie passiert, aber die Gefahr ist trotzdem real, so der Eindruck, den viele in Aachen haben. Der Mediziner Duisberg rät seinen Zuhörern in Roetgen: "Cool bleiben und den Kontakt mit radioaktivem Staub so gering wie möglich halten." Er ist überzeugt: Nur wenn die Menschen von den Behörden ehrlich informiert würden, dann bräche keine Panik aus.

Infografik: Atom-Reaktoren in Europa | Statista
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Dass die Rede von einem atomaren Zwischenfall in Tihange kein Hirngespinst übervorsichtiger Atomkraftgegner ist, zeigt die Pannenserie belgischer Kernkraftwerke. Tihange 2 und Doel 3 mussten wegen der Haarrisse im Reaktordruckbehälter abgeschaltet werden. 2014 erteilte die belgische Atomaufsichtsbehörde FANC trotzdem die Genehmigung, die AKWs für weitere zehn Jahre zu betreiben. In Aachen vermutet man, dass vor allem wirtschaftliche Interessen dahinter stecken. Eine Million Euro Gewinn macht ein AKW am Tag, heißt es in der Branche.

Lange blieben Tihange und Doel nicht am Netz. Weitere Haarrisse tauchten auf. Im Februar 2016 berichtete der WDR zudem, dass in den Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 das Kühlwasser vorgeheizt werden muss, weil man offenbar fürchtet, das kalte Wasser könne die Reaktordruckbehälter beschädigen.

Peter Laws baut bereits Kontakte in Neuseeland auf. "Um handlungsfähig zu sein, wenn die Situation eskaliert", sagt er. Seine älteste Tochter wird nach dem Sommer einen längeren Schüleraustausch in Neuseeland machen. Dort wird Laws sie im Herbst besuchen. Am anderen Ende der Welt gibt es keine Atomkraftwerke.

(heif)
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