NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer "Das Niveau ist gesunken"

Düsseldorf · Die NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) spricht im Interview mit unserer Redaktion über Qualität an den Schulen, Konzerne im Klassenzimmer und die Vorzüge von Diktaten.

 "Es gibt erste positive Tendenzen, aber nach wie vor betrübt mich die Situation": Yvonne Gebauer.

"Es gibt erste positive Tendenzen, aber nach wie vor betrübt mich die Situation": Yvonne Gebauer.

Foto: Bretz

Besser werden - hätte Schulministerin Yvonne Gebauer einen guten Vorsatz für den Unterricht in NRW im Jahr 2018 zu formulieren, wäre das wohl seine kürzeste Version. Alles, was Gebauer anpacken will und muss, soll vor allem zu höherer Qualität führen. Ein naheliegendes Thema also für ein Gespräch zum Jahresauftakt.

Frau Gebauer, im Koalitionsvertrag haben Sie "beste Bildung" versprochen. Wie lange müssen Sie dafür Ministerin bleiben - reicht 2040?

Gebauer (lacht) Naja, wir hoffen schon, die beste Bildung hier in Nordrhein-Westfalen schneller zu erreichen. Aber die Voraussetzungen dafür sind nicht optimal.

Inwiefern?

Gebauer Ich habe bei Amtsantritt eine Schullandschaft vorgefunden mit vielen Herausforderungen und ungelösten Fragen, mit denen die Politik die Lehrerinnen und Lehrer in der Vergangenheit allein gelassen hat. Daher ist es schon anspruchsvoll, in wenigen Jahren beste Bildung an unseren Schulen zu bekommen.

Was ist das größte Problem?

Gebauer Neben der Umsteuerung der Inklusion und der wachsenden Herausforderung der Integration steht und fällt für mich beste Bildung mit einer ausreichenden Lehrerversorgung.

Und? Ist da Besserung in Sicht?

Gebauer Es gibt erste positive Tendenzen, aber nach wie vor betrübt mich die Situation. Wir haben mittlerweile 72 Prozent aller zur Verfügung stehenden Lehrerstellen besetzt. Anfang des Schuljahres waren es noch 53 Prozent. Das ist besser, aber noch nicht gut genug. Ich lege mein Hauptaugenmerk auf die Grundschulen, weil dort die Not am größten ist. Als Sofortmaßnahme haben wir den Seiteneinstieg für das Fach Englisch geöffnet. Damit ist der Seiteneinstieg an Grundschulen jetzt allerdings ausgereizt.

Wie ist die Resonanz auf Ihre Aktion, Lehrern weiterführender Schulen eine Einstellungsgarantie zu geben, wenn sie für zwei Jahre an eine Grundschule gehen?

Gebauer Das Angebot läuft ja noch, daher ist es zu früh, das jetzt schon abschließend zu bewerten. Es stimmt mich aber positiv, dass wir bereits nach zehn Tagen über 150 Bewerbungen hatten. Bis Ende November haben wir mehr als jedem Dritten eine Stelle anbieten können, derzeit 60 Verträge.

Mehr nicht? Sie haben 2400 Lehrer angeschrieben.

Gebauer Warten Sie doch das Schuljahr einmal ab. Ja, ich hätte mir mehr abgeschlossene Verträge gewünscht, aber ich kann auch nicht erwarten, dass ein ausgebildeter Oberstufenlehrer, der immer mit älteren Kindern und Jugendlichen arbeiten wollte, seine Lebensplanung in wenigen Tagen über den Haufen wirft und in die Grundschule wechselt. Ich befürchte aber auch, dass vielen angehenden Oberstufenlehrern die Situation in den nächsten Jahren nicht ganz klar ist: Wir haben zwar insgesamt zu wenig Lehrer, aber bei den Oberstufenlehrern in vielen Fächerkombinationen nicht. Die Konkurrenz an den weiterführenden Schulen wird immer größer - vielleicht motiviert auch das den einen oder anderen noch, das Angebot zu nutzen und für zwei Jahre an Grundschulen zu unterrichten.

In einem offenen Brief hat der Verband VBE kritisiert, an vielen Grundschulen sei geordneter Unterricht nicht mehr möglich. Ist es so furchtbar?

Gebauer Es gibt große Unterschiede. In Paderborn werden Sie kaum unbesetzte Grundschulstellen finden, in Duisburg sehr viele. Wir wollen deshalb mit dem Wissenschaftsministerium darüber sprechen, an den Mangel-Standorten zusätzliche Studienplätze einzurichten, also etwa im Ruhrgebiet. Wir wissen, dass sich Studierende sehr ungern auf Reisen machen.

… also sind die künftigen Lehrer zu unflexibel?

Gebauer Nein, so pauschal ist das zu simpel, aber natürlich sind Studienplätze in Ballungsgebieten begehrter. Es kann durchaus sinnvoll sein, dort die Kapazitäten zu erhöhen, wo die Versorgung mit Lehrern nicht gut ist — dann ist die Chance vielleicht auch größer, dass die Absolventen dort bleiben, weil es an den Schulen danach ein Angebot gibt.

An der Grundschule ist der Lehrermangel auch ein Ergebnis schlechterer Bezahlung. Ein weiterer Bereich, in dem Lehrer fehlen, ist Informatik. Dort konkurrieren Sie mit Unternehmen, die viel besser bezahlen. Müsste das Land nicht zumindest versuchen, einigermaßen marktgerechte Gehälter zu zahlen?

Gebauer Wie soll das gehen?

Indem man zum Beispiel Lehrer in Mangelfächern nicht verbeamtet, aber höher bezahlt?

Gebauer Selbst als Ministerin habe ich hier wenig Spielraum. Das Besoldungsrecht für Beamte ist gesetzlich geregelt, für Angestellte im öffentlichen Dienst ist die Grundlage der Tarifvertrag. Den Lehrermangel lösen wir auch nicht nur über Geld. Wir werden die Attraktivität und die Anerkennung des Berufs steigern müssen. Deshalb starten wir auch nächstes Jahr eine große Lehrerwerbekampagne. Wir werden aber in den kommenden Jahren auch neue innovative Wege gehen müssen, weil uns der Nachwuchs fehlt.

Das klingt nach mehr fachfremdem Unterricht. Also doch Seiteneinsteiger.

Gebauer Nicht unbedingt. Wir wollen Unternehmen und andere gesellschaftliche Gruppen ermutigen, ihr Personal und ihre besondere Expertise vor allem in den Mint-Fächern stundenweise den Schulen zur Verfügung zu stellen. Damit werden, anders als bei Seiteneinsteigern, keine freien Stellen besetzt. Es geht darum, sich ein Stück weit Expertise mit einem anderen Blickwinkel in die Schulen zu holen und den Kindern Kenntnisse direkt aus der Praxis zu vermitteln.

Aber das ersetzt doch keinen Lehrer.

Gebauer Das habe ich auch nicht gesagt. Aber wir dürfen nicht nur in alten Strukturen und Bahnen denken.

Das heißt, Sie müssen wieder Abstriche bei der Qualität machen.

Gebauer Gerade das will ich nicht. Was ist die Alternative? Dass der Unterricht in manchen Fächern ausfällt? Natürlich ist mir der grundständig ausgebildete Lehrer am liebsten und die beste Besetzung. Davon gibt es aber derzeit einfach nicht genug. Deshalb kann ich mir einen Pakt mit Unternehmen gut vorstellen.

Mit welchen Unternehmen?

Gebauer Wir haben mit der IHK und der Handwerkskammer gesprochen. Konkrete Maßnahmen gibt es aber noch nicht.

Lassen Sie auch Riesenkonzerne wie Apple in die Schulen?

Gebauer Mir schweben eher regional verankerte Unternehmen vor.

Ist in den vergangenen Jahren das Niveau an den Schulen gesunken?

Gebauer Ich habe immer gesagt, dass das Niveau gesunken ist, aber ich möchte klarstellen, dass das nicht an den Lehrern liegt.

Wer ist dann schuld?

Gebauer In erster Linie die Vorgängerregierung, die die Schulen mit vielen Problemen allein gelassen hat. Die Herausforderungen wurden größer, aber die Unterstützung wuchs nicht in gleichem Maße mit.

Sie wollen wieder mehr auf Fachlichkeit statt auf Kompetenzen in den Lehrplänen bestehen - also mehr darauf, was konkret gelernt wird. Sollten in zehn Jahren wieder mehr Diktate geschrieben werden als heute?

Gebauer Ich meine nicht, dass Diktate schlecht sind.

Müssen die Eltern mehr lesen mit ihren Kindern, mehr Gedichte lernen?

Gebauer Ich würde mich sehr freuen, wenn sich noch mehr Eltern wieder stärker mit ihren Kindern beschäftigen und zusammen spielen, schreiben und vorlesen. Mit Lesen steht und fällt alles.

Laden die Eltern zu viel bei der Schule ab?

Gebauer Manche Eltern sollten ihrem Erziehungsauftrag wieder mehr nachkommen und sich nicht so sehr auf andere verlassen. Es gibt leider einige Eltern, die nicht nur ihr Kind in der Schule abgeben, sondern auch gleich ihre Verantwortung. Das müssen die Lehrer dann aufzufangen versuchen, aber das ist nicht ihre eigentliche Aufgabe.

Aber häufig ist es doch umgekehrt: Heute wird selbstverständlich von den Eltern erwartet, dass sie mit ihren Kindern das Einmaleins üben.

Gebauer Das widerspricht sich nicht. Der Erziehungsauftrag hat in der Schule heute häufig mehr Gewicht als früher, daher verschieben sich in manchen Fällen Teile des Bildungsauftrags hin zu den Eltern. Wenn sich das wieder ändert, können Schulen auch wieder ihre volle Energie auf das Unterrichten und die Wissensvermittlung konzentrieren.

Wie sieht die Zukunft des Fachs Englisch an Grundschulen aus?

Gebauer Es gab dazu eine Anhörung, und ich warte jetzt auf die Meinungsbildung im Parlament. Es wird zu klären sein, ob wir weiter so früh mit dem Englischunterricht einsetzen wollen oder wieder später.

Englisch an Grundschulen abzuschaffen, steht nicht mehr zur Debatte

Gebauer Ich habe das weder gesagt noch gewollt. Der Antrag kam von der AfD. Mir geht es um den richtigen Zeitpunkt, um mit dem Unterricht zu beginnen.

Erhöht die Rückkehr zu G9 die Qualität der Bildung am Gymnasium?

Gebauer Das ist mein Ziel - Ruhe am Gymnasium, höhere Qualität und mehr Zeit für die Persönlichkeitsentwicklung.

Manche Schulleiter sagen: G9 hilft vor allem den mittelmäßigen Schülern. Die guten brauchen es nicht, die schlechten bräuchten mehr Betreuung, zum Beispiel am Nachmittag.

Gebauer Mein Anspruch ist es, gute Bildung für alle anzubieten. Auch deswegen überarbeiten wir jetzt die Lehrpläne. Es geht nun auch darum, die Digitalisierung und die mathematisch-technischen Fächer zu stärken.

Und das Fach Wirtschaft müssen Sie ja auch noch unterbringen.

Gebauer Wir werden zuerst das Fach Politik/Wirtschaft ausschärfen. Bevor Wirtschaft am Gymnasium als eigenes Fach kommen kann, müssen wir dafür Lehrer ausbilden.

Es reicht Ihnen nicht, wenn etwa Politik- oder Sowi-Studenten auch Wirtschaftsvorlesungen besuchen, um dann Wirtschaft unterrichten zu dürfen?

Gebauer Das reicht uns nicht, nein. Wirtschaft als Schulfach braucht eine solide Grundlage. Dazu wird es Expertengespräche geben, und auf dieser Basis bringen wir die Einführung auf den Weg.

Was fehlt Ihnen konkret, um mit einem eigenen Fach Wirtschaft starten zu können?

Gebauer Inhaltlich müssen wir noch definieren, was vermittelt werden soll. Ich möchte, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen ausgewogen vermittelt werden. Derzeit konzentriert sich alles zu einseitig auf Verbraucherthemen, aber auch weitergehende wirtschaftliche Zusammenhänge müssen verstärkt vermittelt werden. Es werden beispielsweise heute nur wenige erklären können, wie ein Tarifvertrag entsteht, obwohl viele später danach bezahlt werden.

Wann kommt die zweite Fremdsprache am Gymnasium?

Gebauer Ich halte einen Start in Klasse 7 für sinnvoll. Es ist auch der Wunsch fast aller Beteiligten. Und es wird auch in allen anderen Schulformen gewünscht, ein Jahr später als bisher anzufangen. Deshalb und im Sinne der Durchlässigkeit ist es geboten, an allen Schulformen gleichzeitig in Klasse 7 zu beginnen.

Welche Stärkung bieten Sie den Gymnasien an, die bei G8 bleiben wollen? Die Gymnasien müssen sich ja bald entscheiden.

Gebauer Die meisten Schulen wissen schon recht genau, ob sie zu G9 zurückkehren wollen oder nicht. Ich rechne mit mehr als 90 Prozent. Wir kümmern uns jetzt um die Umstellung, dann kommen die G8er dran. Bis zum Sommer entscheiden wir, wie die zusätzliche Stärkung aussehen wird.

Warum ist es Ihnen so wichtig, dass das neue G 9 mit seinen 180 verbindlichen Stunden für die Klassen 5 bis 10 im Halbtagsbetrieb zu schaffen ist?

Gebauer Weil es vielen Eltern am Herzen liegt.

Aber Sie sind ja nicht die Elternglücklichmachministerin, sondern die Ministerin für beste Bildung.

Gebauer Das ist richtig, aber Politik braucht auch Akzeptanz, das hat doch G 8 gerade gezeigt. Aber es gibt eben auch zusätzlich zu den 180 Stunden noch acht Ergänzungsstunden, die nicht verbindlich sind. Damit können Schulen ihr Profil schärfen, Schüler fördern und fordern.

Aber damit machen Sie doch nichts Halbes und nichts Ganzes — wer an den acht Stunden teilnimmt, entscheiden die Schulen. Eltern können also trotzdem nicht sicher sein, dass ihre Kinder immer mittags Schluss haben.

Gebauer Für die verschiedenen Kinder und die unterschiedlichen Situationen muss es auch verschiedene Angebote geben. Aber richtig ist: Ich werde nicht alle Wünsche bedienen und auch nicht alle glücklich machen können.

Entspricht es Ihrem Gesellschaftsbild, wenn NRW zu einer Situation wie vor 30 Jahren zurückkehrt: flächendeckend Halbtagsgymnasien?

Gebauer Anhand der Stundentafel würde ich keine gesellschaftspolitische Debatte führen. Und wir haben doch längst schon eine Mischung aus Halbtags- und Ganztagsgymnasien.

Gerade mal jedes vierte Gymnasium arbeitet im Ganztag. Und die Quote wird doch nach der Umstellung eher sinken.

Gebauer Es gibt gute Gründe für den Halbtag, beispielsweise weil Eltern ihre Kinder selbst fördern wollen, und für den Ganztag, um etwa die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern.

Aber ist es nicht Ihre Aufgabe sicherzustellen, dass es beides gibt?

Gebauer Ich schaffe die Voraussetzungen dafür, beides zu ermöglichen, kann aber das Schulangebot vor Ort nicht aus dem Ministerium heraus festlegen. Am Ende liegt das in der Hoheit des Schulträgers.

Hat der Ausbau der Inklusion die Qualität des Unterrichts an den Regelschulen gesenkt?

Gebauer Das überstürzte Tempo zusammen mit den fehlenden Ressourcen hat zu einer höheren Belastung der Lehrer, aber auch der Schüler geführt. Dadurch stieg sicher nicht die Qualität. Den Kindern und Jugendlichen ist oft nicht der Unterricht zugekommen, den sie verdient hätten.

Der Koalitionsvertrag verspricht mehr Schwerpunktbildung bei der Inklusion. Muss also nicht mehr jede Schule lern- und entwicklungsgestörte Kinder fördern?

Gebauer Wir werden verstärkt mit "Schwerpunktschulen" arbeiten müssen, weil die Ressourcen nicht für alle Schulen reichen. Ja, wir müssen zu einer Bündelung der Angebote kommen.

(kib, fvo)
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