Gastbeitrag NRW braucht Europa

Meinung | Düsseldorf · Wer leichtfertig von Abschottung redet und auf Brüssel schimpft, der begibt sich gerade in Nordrhein-Westfalen auf dünnes Eis: Das Land profitiert massiv von Europa. Und in der Europäischen Union steht es besser da als im deutschen Vergleich.

 Der Politologe Ulrich von Alemann (72) war unter anderem Prorektor der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Der Politologe Ulrich von Alemann (72) war unter anderem Prorektor der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Foto: Andreas Endermann

Die Länder entdecken Europa - und Europa entdeckt die Länder. Bis zur Mitte der 80er Jahre wurde der Europäischen Union, die damals noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hieß, "Länderblindheit" vorgeworfen, wahrscheinlich zu Recht. Aber genauso spielten die Länder mit Europa "blinde Kuh". Spätestens seit der Vollendung des Binnenmarktes durch die Maastrichter Verträge hatte das Europa der Regionen Konjunktur. Der Begriff machte eine steile Karriere. Und auch in NRW hat Europa an Stellenwert gewonnen. Die Sache Europa wurde aus einem kleinen Querschnittsressort wieder in die Zuständigkeit der Staatskanzlei zurückgeholt. Die Botschaft lautet: Europa ist in NRW Chefsache.

Seit dem Vertrag von Lissabon hat sich die Situation stabilisiert, aber sie stagniert auch. Denn aus heutiger Sicht steht eine weitere vertiefende Vertragsrevision wohl kaum ins europäische Haus. Man ist schon froh, wenn man den Laden zusammenhalten kann.

Kein "F-Wort" mehr

Föderalismus ist in Europa kein gefürchtetes "F-Wort" mehr. Neben dem gewachsenen und voll ausgewachsenen echten Föderalismus von Deutschland und Österreich haben sich auch Frankreich und Belgien, Italien und sogar Großbritannien auf mehr Autonomie für ihre Regionen eingelassen.

Natürlich darf man nicht vergessen, dass Regionalisierung für viele Staaten eine Gefahr verkörpert, die die staatliche Einheit bedrohen kann. Die Lega Nord, die den wirtschaftlich leistungsfähigen Norden Italiens vom rückständigen Mezzogiorno im Süden lösen will, ist ein solches Beispiel. Flamen und Wallonen streiten in Belgien mit äußerster Heftigkeit um ihr Staatswesen. Schottland und Katalonien wollen (mehr) Autonomie. Angesichts deutscher Vereinigung und europäischer Integration mögen uns diese nationalistisch-separatistischen Eruptionen wie ein Anachronismus erscheinen. Dagegen wirken deutsche Föderalismus-Querelen wie harmlose Scharmützel. Aber die Sorgen vor dem Separatismus sind auch in Europa eben nicht aus der Luft gegriffen.

Die Politikwissenschaft spricht heute viel vom europäischen Mehrebenensystem. Die EU-Institutionen sind die oberste und die erste, die Nationalstaaten die zweite Ebene. Die Stärkung der regionalen dritten (und vielleicht auch der kommunalen vierten) Ebene im mehrstöckigen europäischen Haus bietet die Chance, die europäische Integration dem Bürger näherzubringen.

Regionen kaum auf einen Nenner zu bringen

Das verschafft dem europäischen Prozess insgesamt eine neue Legitimationsressource und kann Ängste vor eurokratischer Anonymität und demokratischen Defiziten abbauen helfen. Dabei steht Europa allerdings vor dem Problem, dass die Regionen kaum auf einen Nenner zu bringen sind.

Nordrhein-Westfalen und Kalabrien, Wales und Korsika, Vorarlberg und Paris: Sowohl in ihrer politischen Struktur und in der ökonomischen Stärke als auch in der Größe weichen die Gebilde, die sich Region nennen, stark voneinander ab. Sogar in Deutschland gab es Streit um den Begriff. Nicht nur die Länder, auch die Kommunen sind deshalb im europäischen Ausschuss der Regionen vertreten. Und natürlich stehen die Regionen untereinander in harter Konkurrenz um knappe Mittel.

Nordrhein-Westfalen nimmt in dieser Hinsicht einen bemerkenswerten Rollentausch vor: Während es in Deutschland mit seinem Strukturwandel als Problemland gilt, steht NRW im Vergleich etwa mit anderen altindustriellen Regionen Europas gar nicht so schlecht da. Auf Europas Bühne kann sich NRW viel günstiger präsentieren als im vorurteilsbelasteten Wettbewerb der deutschen Bundesländer.

Schon bevor Europa die Regionen entdeckte, hat Nordrhein-Westfalen von der europäischen Integration stark profitiert. Ökonomisch spricht die Außenhandelsorientierung der nordrhein-westfälischen Wirtschaft, die den Großteil des Handels mit den europäischen Nachbarn abwickelt, eine deutliche Sprache. Nordrhein-Westfalen bietet sich als eine attraktive Wirtschaftsregion in der EU an. Ein Viertel aller ausländischen Direktinvestitionen in der Bundesrepublik entfällt auf Nordrhein-Westfalen. Aber auch umgekehrt ist das Land an Rhein und Ruhr wirtschaftlich stark auf Europa gepolt. Als Bundesland mit einer hohen Exportquote ist gerade NRW auf den Handel mit seinen europäischen Nachbarn angewiesen. Über 60 Prozent der NRW-Exporte gehen in europäische Länder - die meisten in die Niederlande, nach Frankreich und Großbritannien.

Zwei Milliarden Euro aus EU-Fonds

NRW liegt als Wirtschaftsmacht deutlich vor den vielen kleineren Mitgliedstaaten der EU. Zugleich profitiert das Land seit Jahren in großem Umfang von europäischen Unterstützungsleistungen. Nordrhein-Westfalen konnte aus den 1988 reformierten EG-Strukturfonds beträchtlichen Nutzen ziehen. Der Landesregionalpolitik sind dadurch neue Chancen eröffnet worden, aus den diversen Finanztöpfen zu schöpfen, wie dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, dem Europäischen Sozialfonds oder dem Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft. Nordrhein-Westfalen hat allein aus den EU-Fonds von 2007 bis 2013 insgesamt rund zwei Milliarden Euro erhalten.

Die europäischen Programme haben benachteiligten Regionen - und dazu zählt auch das Ruhrgebiet - in dieser Zeit erheblich unter die Arme gegriffen. Dass in der Öffentlichkeit, auch in NRW, immer wieder die Frage hochkommt, ob sich für "Zahlmeister" Deutschland die Mitgliedschaft in der EU überhaupt lohne, ist nur ein Zeichen von Ignoranz oder Populismus. Für die vielen Europa-Töpfe hat NRW einen langen Löffel.

Aber auch der immaterielle Nutzen für Nordrhein-Westfalen durch die fortschreitende Integration steht außer Frage: Wer genießt es nicht, ohne die noch vor Jahren üblichen Kontrollen in die Niederlande zum Urlaub oder zum Einkaufen zu fahren? Die gesellschaftlichen und kulturellen Gewinne sind enorm. Umso bedrohlicher für das Land und seine Bürger (und auch seine Wirtschaft!) sind die dunklen Wolken, die sich seit der Flüchtlingskrise um die Zukunft der Freizügigkeit nach dem Schengener Abkommen legen.

Autor und Text Der Politologe Ulrich von Alemann (72) war unter anderem Prorektor der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Unser Text ist ein Auszug aus seinem Buch "Nordrhein-Westfalen. Ein Land blickt nach vorn", das in diesen Tagen im Kohlhammer-Verlag erscheint.

(RP)
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