Gastbeitrag Stephan Dorgerloh und Winfried Kneip G8/G9 — Eltern auf dem Kriegspfad

Meinung | Düsseldorf · Im Streit um das "Turbo-Abitur" lässt sich die Politik von den Eltern treiben. Wer am lautesten schreit, bestimmt die Agenda. Immer öfter entscheiden nicht Experten über Bildungspolitik, sondern Machtstrategen.

G8/G9 — Eltern auf dem Kriegspfad - ein Gastbeitrag
Foto: dpa, awe mov lof

Was sind sorgfältige Beratungen am runden Tisch und überparteiliche Beschlüsse wert, wenn kurz vor Landtagswahlen dann doch die alte Strukturfrage neu entflammt, ob das Gymnasium acht oder neun Jahre währt, der Streit um G8 oder G9 also? So ist es nun auch in NRW, wo die Empfehlungen des runden Tischs von 2014 für Entlastungen im G8 eigentlich für Ruhe hätten sorgen sollen. Eigentlich. Und es sind gerade nicht die Kultusminister, die diese Debatte immer wieder aufmachen, weil sie wie die Bildungsforscher längst wissen, dass für den Bildungserfolg etwa die Unterrichtsqualität wichtiger ist als G8 oder G9.

Warum, fragt man sich derzeit, graben nun ausrechnet Elternvertreter das Kriegsbeil aus und drohen auch gleich mit einem Volksentscheid, falls ihre bildungspolitischen Vorstellungen nicht umgehend erfüllt werden? Warum binden sie Ressourcen in einer Strukturdebatte, statt die wirklichen Herausforderungen für mehr Schulqualität wie Inklusion, Digitalisierung und die überfällige Überarbeitung von Stundentafel und Lehrplänen anzugehen? Liegen neue harte Fakten auf dem Tisch? Gibt es neue Erkenntnisse? Bisher nicht.

Kritische Fragen müssen erlaubt sein

Stattdessen überwiegen ideologisch gefärbte Argumentationen und "gefühlte Empirie", die meist von Elternvertretern verallgemeinernd auf der Basis eigener familiärer Erfahrungen in drastische Forderungen gekleidet werden. Wer am lautesten schreit und am effektivsten Stimmung macht, bestimmt die politische Agenda. Wenn etwa die gefühlte Wahrnehmung von Schulstress auf den Tisch kommt, wäre ja zumindest auch selbstkritisch zu fragen, welche Rolle die Eltern selbst in dieser Frage spielen.

Es wäre für die Weiterentwicklung der Schullandschaft, für das Streben nach besseren Schulabschlüssen und mehr Qualität im Schulalltag erfolgversprechender, Fakten zu diskutieren, wo sie vorliegen — und Analysen in Auftrag zu geben, wo sie nicht vorliegen. Konsense in Schulstrukturfragen sind zu mühsam errungen und zu wichtig für eine ruhige, inhaltliche und innere Weiterentwicklung von Schule, als dass man hier ohne Not einen neuen Glaubens- und Kulturkrieg vom Zaun brechen sollte, der statt neuer Fakten eher von der Wiederholung alter Argumente — beziehungsweise Glaubenssätze — lebt. Die politische Erfahrung zeigt aber, dass sich solche bildungspolitischen Glaubensüberzeugungen selten von Daten und Analysen empirischer Bildungsforschung beeindrucken lassen.

Mittelfristig wären von einem Wechsel von G8 zurück zu G9 Mehrkosten zu erwarten, die dann für andere Bildungsausgaben fehlen. Ob man alle zusätzlichen Lehrerstellen, die dann nötig werden, auch besetzen kann, ist obendrein fraglich. Aber selbst wenn uns die Bildung unserer Kinder gar nicht lieb und teuer genug sein kann, müssen doch kritische Fragen erlaubt sein, bevor nun in vorauseilendem Gehorsam der Elternwille zur Strukturreform führt, obwohl keine wissenschaftliche Evidenz dafür vorliegt: Wir können in Deutschland doch ausreichend erfolgreiche Beispiele für das Gegenteil, ein gelingendes G8, vorweisen.

Das Beispiel Sachsen

Warum spielen die guten Erfahrungen der ostdeutschen Bundesländer in dieser Debatte kaum eine Rolle? Im letzten Ländervergleich der Kultusministerkonferenz in naturwissenschaftlichen Fächern der Klasse 9 liegen alle ostdeutschen Länder in der Spitzengruppe. Sachsen erzielt regelmäßig mit seinem stabilen G8-System im innerdeutschen Vergleich Spitzenwerte.

Und selbst wenn man den Blick nicht in den Osten lenken will, so zeigen Beispiele auch in Nordrhein-Westfalen, wie G8 gelingen und zur Zufriedenheit von Schülern, Eltern und Lehrern gestaltet werden kann. Das Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund begleitet seit 2010 in seinem von der Stiftung Mercator und dem Land NRW geförderten Modellprogramm "Ganz In" 30 Ganztagsgymnasien dabei, ihre Lehrpläne so zu gestalten, dass der "gestraffte" Lehrplan die für den Abschluss erforderlichen Kenntnisse und Kompetenzen ebenso gewährleistet wie Phasen und Freiräume für individuelle Förderung und eine gemeinschaftliche Schulkultur.

Die Erkenntnisse von Institutsleiter Wilfried Bos lassen sich auf einen einfachen Nenner bringen: Eine Schule ist erfolgreich und kann die erforderlichen Kompetenzen bis zum Abitur in familienverträglicher Atmosphäre vermitteln, wenn ein rhythmisierter, gebundener Ganztag eingeführt ist, wenn die Selbstlernkompetenzen der Schüler aktiviert werden und wenn das Kollegium sich auf gemeinsame verbindliche Qualitätsstandards verständigt hat.

Die Erfahrungen und Erkenntnisse der 30 Modellschulen werden im Programm "Lernpotenziale" in die Netzwerke von weiteren fast 150 Gymnasien eingespeist. Etwa ein Drittel aller Gymnasien in NRW befindet sich damit bereits seit Jahren in einem Reformprozess zu einer höheren Schulqualität, der nun durch die Initiative der Elternverbände und die darauf folgenden Reaktionen der Politik gefährdet wird.

Die Rolle der Landtagswahlen

In den letzten Jahren erschien es wie ein bildungspolitischer Segen, dass die langjährigen Strukturdebatten unter den politischen Akteuren einem immer größeren Interesse an inhaltlichen Fragestellungen, aber auch Überlegungen zu einer Verbesserung der Lehreraus- und -fortbildung gewichen sind. Lasst uns statt Quantitätsfragen auch weiter die Fragen nach mehr Unterrichtsqualität debattieren! Es gilt, die vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen. Das hilft nicht nur Schülern und Elternhäusern, sondern auch der Volkswirtschaft und damit der Gesamtgesellschaft.

Last, but not least mischen in schulpolitischen Fragen vor Landtagswahlen immer stärker Parteistrategen und Wahlkampfmanager mit — insbesondere wenn eine Volksinitiative droht, die wie Gift für die Regierungsparteien und wie eine Leimrute für die Opposition wirkt. Das hat aber zur Folge, dass gerade nicht Bildungsexperten über zentrale Weichenstellungen entscheiden, sondern Machtstrategen. Das tut dem Bildungssystem und damit unseren Kindern selten gut.

Man kann allen Beteiligten in Nordrhein-Westfalen nur wünschen, dass sich der runde Tisch nach der Wahl erneut zusammensetzt und die Gestaltungshoheit über die Schulbildung in den Händen der Politiker und Praktiker lässt, die sich damit auskennen. Dort müssen dann statt Glaubensüberzeugungen harte Fakten auf den Tisch. Dieser Weg ist vielleicht mühsamer, aber am Ende sicherlich erfolgreicher für die Schüler und für NRW.

Stephan Dorgerloh (50) war von 2011 bis April 2016 für die SPD Kultusminister von Sachsen-Anhalt. 2013 stand der evangelische Theologe der Kultusministerkonferenz vor. Winfried Kneip (58) ist Geschäftsführer der Stiftung Mercator in Essen und zuständig für den Bereich Bildung. Die Stiftung hat bei Dorgerloh eine wissenschaftliche Expertise zu G8/G9 in Auftrag gegeben.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort