Gewalt an Schulen "Er hielt mir eine Pistole an die Stirn"

Düsseldorf · Gewalt gegen Lehrer ist ein Tabu. Eine Umfrage hat kürzlich gezeigt, dass viele Übergriffe nicht gemeldet werden. Eine Lehrerin aus NRW berichtet, wie ein Schüler sie mit einer Waffe bedroht hat - und wie sie selbst damit fertig werden musste.

 Elke Coenen (60) hat Gewalt im Unterricht hautnah erlebt. Ein Schüler bedrohte sie mit einer Pistole.

Elke Coenen (60) hat Gewalt im Unterricht hautnah erlebt. Ein Schüler bedrohte sie mit einer Pistole.

Foto: Endermann, Andreas

Wenn Elke Coenen an den 5. Juni 2002 denkt, fängt ihr Herz an zu rasen. Wie damals. An diesem Mittwochnachmittag stand plötzlich ein Schüler vor der Lehrerin und hielt ihr eine Pistole an die Stirn. "Na, haben Sie jetzt Angst?", habe er sie gefragt. "In mir lief ein Automatismus ab, ich habe auf ihn eingeredet", erinnert sie sich. "Äußerlich bin ich ruhig geblieben, aber mein Puls war auf 180. Ich wusste nicht, ob das eine echte Waffe ist." Eine gefühlte Ewigkeit später ließ er die Waffe sinken. "Das ist nur eine Schreckschusspistole", habe er zu ihr gesagt, als wenn alles nur ein Scherz gewesen wäre. Dann drehte er sich um und rannte weg.

Coenen war zu diesem Zeitpunkt 46 Jahre alt und Lehrerin an einer Hauptschule, unterrichtete Kunst, Sport, Hauswirtschaftslehre. Und sie gab mittwochnachmittags eine AG, in der die Schüler einen Mofa-Führerschein machen konnten. Der Schüler, der sie bedrohte, hatte im Jahr davor seinen Abschluss gemacht, sie kannte ihn aus der Mofa-AG, Probleme hatte sie keine mit ihm.

Fast jeder zehnte Lehrer ist Opfer von körperlicher Gewalt

Übergriffe auf Lehrer sind längt keine Seltenheit mehr. Die Lehrergewerkschaft VBE hat erst in dieser Woche eine repräsentative Umfrage zu dem Thema vorgelegt. Für die Umfrage hatte das Institut Forsa bundesweit 1951 Lehrkräfte befragt, 500 davon in NRW.

Lesen Sie hier die Berichte weiterer Lehrer über Gewalt an Schulen:

Demnach wurde schon jeder zehnte Lehrer in NRW einmal Opfer von körperlicher Gewalt. Ein Viertel der Befragten gab zudem an, im Dienst schon beschimpft, bedroht, gemobbt oder anderweitig Opfer psychischer Gewalt geworden zu sein. Schüler filmten Lehrer im Unterricht und stellen die Videos ins Internet. Oder sie legen falsche Profile in sozialen Netzwerken wie Facebook an und posten unsittliche Inhalte und verschicken Freundschaftsanfragen, wie es eine 61-jährige Gymnasiallehrerin unserer Redaktion berichtet hat.

Ein 63-jähriger Hauptschullehrer sagte unserer Redaktion, er habe kürzlich ins Krankenhaus gemusst, weil ein Siebtklässler ihm eine Tür so heftig vor den Kopf gestoßen hatte, dass er bewusstlos wurde. Auch Ronald Bartsch von der Kempener Ortsgruppe des Verbands der Lehrer an Berufskollegs erklärte, ein Schüler habe ihn schon einmal verletzt. Dieser habe ihm aus Wut über einen Klassenbucheintrag das Buch ins Gesicht geschlagen.

In den meisten Fällen werden die Attacken nicht öffentlich bekannt und bleiben ohne Konsequenzen für die Angreifer — so war es auch bei Elke Coenen. Zur Polizei ist sie damals nicht gegangen. "Ich wollte mein Privatleben nicht damit belasten, dafür hatte ich keine Energie." Den Schüler, der ihr das angetan hat, habe sie nie wiedergesehen, und so etwas habe sie auch nie wieder erlebt. Zudem habe sie sich allein gelassen gefühlt. "Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten soll." Zunächst blieb sie an der Schule. Seit 2011 arbeitet Coenen an einer Berufsschule, dort fühlt sie sich wohl.

Nach den Amokläufen in Erfurt und Winnenden seien Lehrer besser auf Bedrohungen und Angriffe vorbereitet worden, sagt Coenen. Fünf Wochen vor der Attacke auf sie hatte der 19-jährige Schüler Robert Steinhäuser im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 17 Menschen und sich selbst getötet. "Das hatte ich immer im Hinterkopf", erzählt Coenen heute, 14 Jahre später. Vieles habe sich seither getan, meint sie. Doch Gewalt von Schülern gegen Lehrer sei nach wie vor ein Tabuthema.

Martin Kieslinger ist Justiziar beim VBE und berät seit 15 Jahren Schulleiter und Lehrer im Umgang mit Gewalt. Er weiß, dass Lehrer sich oft in einem Dilemma befinden. Denn viele der auffälligen Schüler können nicht strafrechtlich belangt werden, weil sie minderjährig sind. Die Schulleitung kann aber Sanktionen verhängen, im äußersten Fall einen Verweis erteilen. Das Jugendamt einzuschalten, sei auch möglich. "Wichtig ist, dass sich der Arbeitgeber schützend vor seine Lehrer stellt", sagt Kieslinger.

Elke Coenen fing nach dem Vorfall von damals an, Marathon zu laufen. "Das Laufen hat mir geholfen, damit fertig zu werden."

(heif)
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