Kolumne Gesellschaftskunde Freigesetzte Aggressivität

Es ist an der Zeit, über Männer zu reden. Darüber, was in der Silvesternacht eigentlich geschehen ist, als junge Aggressive aus dem Schutz einer großen Gruppe zuerst Feuerwerkskörper auf Menschen warfen, die auf dem Platz vor dem Kölner Dom nicht ausweichen konnten. Im Schein bengalischen Feuers entfachten sie ein Szenario offener Gewalt und nutzten das Gedränge dann, um ihre Macht über verängstigte Frauen auszuspielen, sie zu erniedrigen, ihnen das Statussymbol Handy zu rauben - vor allem aber ihre Würde.

Mehrere Stufen der Enthemmung sind da nacheinander gezündet: Erst der Alkoholrausch, dann der Gewaltrausch durch Beschuss aus der Distanz, schließlich die direkte Bedrohung körperlich unterlegener Opfer. Da wurden Allmachtsfantasien ausgelebt, Aggressivität freigesetzt, womöglich verdrängte Wut auf übelste Weise nach außen gekehrt - und das ist immer ein Zeichen innerer Schwäche.

Darum ist es völlig fehl am Platze, nun über Armlängen, Blickkontakt zu Fremden und Verhaltensregeln für Frauen zu diskutieren. Die Frage ist, welche Ursachen die Aggressivität jener jungen Männer hat, die da in einer Nacht so enthemmt zum Ausbruch kam. Auch darum ist es wichtig, dass die Polizei die Täter dingfest macht und die Hintergründe klärt. Der Rechtsstaat muss angemessen reagieren können. Aber das ist nur das eine. Die Öffentlichkeit muss sich auch ein Bild machen können, muss erfahren, ob die Täter betrunkene, gelangweilte, moralisch verrohte Halbstarke, eingeschleuste Verbrecher organisierter Banden oder schon lange hier lebende Migranten sind, deren Integration weit vor der aktuellen Flüchtlingsbewegung gescheitert wäre. Und dann muss sie reagieren. Und zwar nicht, indem sie in simple Reflexe verfällt und Menschen anderer kultureller Herkunft schlechthin für suspekt erklärt. Rechte Populisten haben damit ja bereits begonnen. Gerade weil die Hintergründe der Ereignisse noch so ungeklärt sind, lassen sie sich prima in bestehende Feindbilder projizieren. Dann gibt es Sündenböcke und die trügerische Gewissheit, alles habe ja so kommen müssen. Dabei muss die Gesellschaft gerade jetzt auf ihre Werte pochen. Und das heißt auch, bei aller berechtigten Empörung besonnen zu bleiben, erst zu urteilen, wenn die Fakten geklärt sind, und sich eine differenzierte Betrachtung des Geschehens zu leisten. Denn das ist das Rückgrat der aufgeklärten Gesellschaft: Differenziertheit, gerade wenn Empörendes geschieht.

Silvester ist eine Nacht, in der die Stimmung oft gefährlich schwankt zwischen Feierlaune und Gewalt: Menschen trinken, explosive Kracher sind in aller Hände, und auf den zentralen Plätzen der Stadt begegnen einander Leute unterschiedlicher sozialer Klassen, die sonst hinter den unsichtbaren Grenzen der Gesellschaft in ihren Milieus bleiben. Wenn junge Männer diese Atmosphäre in Gewaltorgien treiben, um sich eine Nacht lang als mächtig zu erleben, muss die Polizei zur Stelle sein - und die Gesellschaft nach den Hintergründen fragen.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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