Vom Trucker zum Sänger Der seltsame Fall des Winni Biermann

Ein Trucker, der Operetten singt, wäre früher ein nettes Smalltalk-Thema gewesen. Heute bekommt der Bocholter Winfried Biermann dank YouTube einen Plattenvertrag und tritt vor fünf Millionen Menschen live im Ersten auf. Wird da mal wieder ein Exot vorgeführt?

Vom Trucker zum Sänger: Der seltsame Fall des Winni Biermann
Foto: Sony Classical

In der Zukunft, in einem halben oder dreiviertel Jahr vielleicht, wird sich zeigen, ob die Geschichte vom TV-Star Winfried "Winni" Biermann, dem "Singenden Trucker", ein weiterer Beleg für den drohenden Untergang des Abendlandes ist — oder ein Anzeichen für seine Rettung.

In der Vergangenheit hat Winfried Biermann (47) aus Spaß an der Freude gesungen. Seit der endgültigen Auswechslung aus dem Mittelfeld der Alten Herren vom DJK TUS Stenern 2006. Seine Knie machten nicht mehr mit, also suchte er ein neues Hobby und fand es, seinem Schwager sei Dank, im Kolpinghaus, bei den Proben des "Quartettvereins", gegründet 1922, exzellenter Ruf. Bocholt's Finest. Er trat dem Männerchor bei, mauserte sich, sang als einer von 13 im Ersten Tenor und zunehmend auch solo. Zu den üblichen Anlässen in einem Städtchen zwischen Münsterland und Niederrhein, das sich von denen in anderen Städtchen kaum unterscheidet: Jörgs 50. Geburtstag, Weinfest, Gedenkfeiern, dazu die Nationalhymne beim Public Viewing vor WM-Spielen der deutschen Nationalmannschaft und ein paar Takte als Weihnachtsmann im Familienmusical des Stadttheaters. Am Liebsten aber singt "Winni" ganz für sich allein. Am Steuer seines Firmenwagens, Kennzeichen: BOR-F 7016, Motor: Diesel, PS: 410, Länge: 16,50 Meter, Gewicht: 30 Tonnen. Biermann fährt Schotter und Schutt durch die Gegend, runter ins Ruhrgebiet vor allem. Dabei singt er andere Songs, weniger massentaugliche. Nicht, weil sie zu anrüchig wären, wie es das Trucker-Klischee vorsieht. Ganz im Gegenteil. Biermann liebt Operetten.

In der Gegenwart hat diese Kombination dafür gesorgt, dass er sich manchmal kneifen muss. Erst berichtete der Lokalsender Bocholt TV über ihn, danach klopfte — YouTube sei Dank — das ZDF-Magazin "Hallo Deutschland" an. Es folgten das Sat.1-"Frühstücksfernsehen", das amerikanische Fernsehnetzwerk NBC, die "Bild"-Zeitung und der Oldie- und Schlagersender WDR4. Zwischendurch wurde das Plattenlabel Sony Classical auf Biermann aufmerksam. An einem Donnerstagabend Mitte September kam eine Vertreterin des Weltkonzerns zu Besuch, am Freitagmittag schickte sie eine Mail, im Anhang: ein Vertrag, neun Seiten, zwei Alben, zack.

Winni wirkt wie erfunden von "switch reloaded"

Schnell folgten die Studioaufnahmen und Videodrehs, seit kurzem ist das Album im Handel, einen Tag nach dem Verkaufsstart trat er zur besten Sendezeit live im Ersten auf, in Florian Silbereisens Schlager-Show "Die Besten im Frühling", fünf Millionen Menschen sahen zu. Dass er "Deutschlands bekanntester Trucker" ist, wie der Boulevard krakeelt, mag übertrieben sein. Aber nur ein wenig.

Es ist nicht schwer, sich über all das lustig zu machen: Ein 47-Jähriger mit stattlichem Bauch und gegeltem Igelschnitt über fliehender Stirn. Namens Winni. Fährt im gelben Peugeot-Cabrio durch ein mal mehr, oft auch weniger sonniges Bocholt, tanzt mit Rosen und Laternen und den Nachbarinnen. Schmettert Schnulzen vor dem Baustoff-LKW. Sitzt auf dem Cover seiner schnörkelig beschrifteten CD mit Frack in diesem Truck. Und Notenblättern. Und Sonnenuntergang im Hintergrund.

Winni wirkt wie eine Erfindung von Fernseh-Selbstbespieglern wie Oliver Kalkofe oder dem "switch reloaded"-Team.

Ist er aber nicht.

Natürlich kann man sich fragen, wie es mit ihm weitergehen wird, wenn der Unterhaltungszirkus sehr bald das nächste, noch exotischere Wesen gefunden hat. Eine Nonne mit Vorliebe für Death Metal vielleicht oder einen Literaturnobelpreisträger, der Helene Fischer covert. Irrer geht immer, selbst nach "Schnappi", "Maschendrahtzaun" und Co.

Aber die Sorge, die einen bei dieser Ausgangssituation befällt, dass nämlich eine unheilige Allianz aus Musikindustrie und Boulevardpresse einen Dorfdeppen vor den Augen der Fernsehnation verheizt, sie verpufft wie die anfänglichen Vorurteile seiner Arbeitskollegen gegen den "Opernheini" oder das Trockeneis beim Videodreh.

Es ist ein wahr gewordener Traum. Und Winni ist echt.

Was ist denn bisher schon Schlimmes passiert? Biermann bekam einen anderen Bühnennamen verpasst, der "Bokeltse [= Bocholter] Tenor" wurde zum "Singenden Trucker". Das Städtchen verschwand nicht nur aus seinem Künstlernamen, die "Bild" verlegte es auch noch flugs ins Ruhrgebiet, weil Paul Potts (der britische Ex-Handyverkäufer mit inzwischen fünf Alben) seinen "Sangesbruder" aus dem "Pott" treffen sollte, des Wortspiels wegen. Alles in allem vernachlässigbar als Nebeneffekt der Verwirklichung eines Traums. Denn das sagt Biermann nicht nur, das ist es ja auch. Egal, wie abgenudelt das nach Dutzenden Casting-Shows klingt. Und der Mann, der seinen Traum verwirklicht hat, ist echt. Egal, wie schlimm das Wort "authentisch" von Blendern aller Couleur entweiht wurde. Winni Biermann ist echt. Echt nervös, echt happy, echt nett. So echt, wie keiner spielen könnte.

Selbst auf eine Twitter-Schulung hat Sony ganz offensichtlich verzichtet.

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Das ist so ungewohnt. So erfrischend. So sympathisch in einer Zeit, in der Nacktmodels sich selbst als Nacktschnecken verspotten und dumme Blondinen sich zu noch dümmeren Blondinen stilisieren. Ein Winni Biermann löscht nicht mal seine harmlosen, aber eben ungeschickten Tweets. Über so was steht er drüber.

Kein Sex, keine Drugs, kein Schicksalsschlag

Auch seine Halbwertszeit als Promi kann Biermann offenbar sehr gut einschätzen. Für eine weitere CD nach dem schon fest geplanten Weihnachtsalbum sei er natürlich offen, sagt er. Vor allem aber betont er zu jeder Gelegenheit und ohne Koketterie, dass er nur Hobbysänger sei, zufrieden mit und dankbar für seinen Job, seine Frau seit 27 Jahren, ihre drei "fantastischen" Kinder und die Schildkröte. "Ich hab' ja auch keinen Grund, mich zu verändern oder so", sagt er. "Ich freu mich einfach, dass ich jetzt dieses Glück habe, dass mir das alles passiert ist — ich freu mich aber auch auf jeden Morgen, an dem ich wieder LKW fahren darf, weiße?"

Vor der Live-Show mit Florian Silbereisen, gesendet aus einer Mehrzweckhalle in Magdeburg zwischen DJ Ötzi, Maite Kelly und Howard Carpendale, hatte Biermann gesagt: "Das übertrifft alles, was man sich vorstellen kann." Diese Aussage kann man belächeln, aber ihn selbst auszulachen, im Dschungelcamp oder einer ähnlichen Resterampe für T-Promis, wird wohl niemandem vergönnt sein.

Biermann macht den nachhaltigen Eindruck eines Mannes, der weiß wer er ist und auch niemand anders sein wollen würde. Bei der Bühnenfigur Winni gibt es das Drama und die großen Gesten, nach denen die jeweilige Rolle verlangt. Im Leben des Menschen Winfried Biermann gibt es bloß Arbeit, Familie, Kaffeetrinken und Chorprobe.

Auffällig abwesend sind in seiner Story die sonst unerlässlichen Standardzutaten wie Sex, Drugs und mindestens ein saftiger Schicksalsschlag. "Behutsam und glücklich" sei er aufgewachsen, erzählt er, als jüngstes von neun Kindern, der Kassettenrekorder dudelte im Kleingarten Klassik und Operetten der großen Tenöre. Nie kommt ein Aber. Wie seine Schulzeit war? "Schön. Alles gut." Dass er bis heute keine Noten lesen kann, ist schon das Pikanteste an der Winni-Story, und nicht mal das wird groß von irgendwem ausgeschlachtet. Wäre der Gedanke nicht so ungeheuer, man könnte vermuten, dass die Geier einen Menschen erkennen, wo sie sonst bloß Verfügungsmasse sehen.

Man darf froher Hoffnung sein, dass Winfried Biermann weder abhebt noch sich zukünftig zum Affen macht für ein bisschen ach so flüchtige Aufmerksamkeit von Wildfremden. Paul Potts habe ihm gesagt "Sing einfach. Lebe deinen Traum. Viel Glück. Bleib gesund. Und fertig", sagt er.

Und genau das hat er vor.

Stress bereite ihm der Medienrummel nicht, sagt Willi. Und wenn "die Singerei" wieder zum einfachen Hobby werde, sei das schon okay. "Das is' Balsam für die Seele für mich. Ich fühl' mich pudelwohl danach, ich hab die ganze Zeit en Grinsen im Gesicht."

Vielleicht wird uns die Wirklichkeit wieder genug

Vielleicht ist Biermann der Mann, dessen Erscheinung längst überfällig ist. Der Kandidat, der die gelackten Entertainment-Schlawiner genauso benutzt wie sie ihn. Vielleicht bringt dieser Deal zwischen dem Prototypen des Provinzlers und den Haien aus der Hauptstadt tatsächlich keinen Verlierer hervor, sondern bloß gut gemeinte Heile-Welt-Musik und ein paar Euro für alle. Vielleicht markiert der Aufstieg von Winni Biermann, so überschaubar er sein und auch bleiben mag, eine Zeitenwende. Vielleicht kommt bald die Zeit, in der ein moderat skurriler Ausschnitt der Wirklichkeit wieder genug ist, einfach so — trotz oder gerade wegen des jahrelangen Bombardements mit dem Gegenteil, mit kokaingeschwängerter "scripted reality" und "Drama, Baby!" auf Kosten der geistigen Gesundheit von aufmerksamkeitsgeilen Kandidaten und geiferndem Publikum.

Das wäre, in den Worten von Biermanns Schwester Heidi Weidemann beim Silbereisen-Auftritt-"Rudelgucken" im Fußball-Vereinsheim: "Verrückt. Einfach verrückt. Total verrückt. Unfassbar eigentlich." Aber nicht unmöglich.

Wie den Zynismus zu bekämpfen, der uns glauben lässt, dass es überall einen Haken geben muss.

(tojo)
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