Gelsenkirchen Baby Sophia und die 11.000 Geretteten aus dem Mittelmeer

Gelsenkirchen · Das Flüchtlingsbaby, das 2015 an Bord einer deutschen Fregatte zur Welt gekommen ist und der EU-Marineoperation im Mittelmeer den Namen gegeben hat, lebt heute in NRW. Unsere Redaktion hat die kleine Sophia in Gelsenkirchen aufgespürt.

Gelsenkirchen: Baby Sophia und die 11.000 Geretteten aus dem Mittelmeer
Foto: Ferl

Die sieben Monate alte Sophia sitzt mit hellwachen Augen auf dem schwarzen Ledersofa und spielt begeistert mit der knisternden Folie, in die ein buntes Lätzchen mit ihrem eingestickten Namen eingepackt war. Wohl erst in einigen Jahren wird Mutter Rahma (33) ihr davon erzählen, dass Sophia für rund 11.000 gerettete Menschenleben steht. Und dass sie auf einem deutschen Kriegsschiff irgendwo im Mittelmeer zur Welt gekommen ist.

Gelsenkirchen: Baby Sophia und die 11.000 Geretteten aus dem Mittelmeer
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Ein süßes Baby mit dunklen krausen Haaren, das einer Militäroperation den Namen gegeben hat - die kleine Sophia Abukar Ali ist ein Symbol für Menschlichkeit, aber auch für die Ohnmacht angesichts einer großen Flüchtlingskatastrophe. Rahma Abukar Ali schildert in ihrer karg möblierten, aber hellen und freundlichen Wohnung in Gelsenkirchen-Buer die Flucht aus dem kriegszerstörten und politisch zutiefst instabilen Somalia, die im Frühjahr 2015 in der Hauptstadt Mogadischu begann.

Wie verzweifelt musste eine damals bereits siebenfache Mutter und erneut schwangere Frau sein, wenn sie ihre noch minderjährigen Kinder in der Obhut der Großmutter zurückließ und sich auf eine rund 13.000 Kilometer lange, lebensgefährliche Reise ins Ungewisse aufmachte - zu Fuß, im Auto, per Schiff und mit der Eisenbahn?

"Ja, es war ein Akt der völligen Verzweiflung. Mein Mann hatte sich von mir getrennt, in Mogadischu wurde es immer bedrohlicher, die Bombenanschläge häuften sich. ,Geh. Hier hast du keine Zukunft', hat meine Mutter zu mir gesagt", berichtet Rahma Abukar Ali. Die ganze Familie habe für sie Geld gesammelt. "Eine Tante 200 Euro, ein anderer Verwandter 100 Euro", mehr will die Somalierin nicht sagen. 8000 bis 10.000 Euro kostet nach Berichten anderer Flüchtlinge eine ähnliche Reise quer durch den afrikanischen Kontinent.

"Ich bin vor dem Tod geflüchtet." Fünf Monate war die Somalierin bis an die Mittelmeerküste unterwegs; in Äthiopien musste sie Hunderte Kilometer zu Fuß zurücklegen. "Ich habe so gelitten! Ich würde aus heutiger Sicht niemandem empfehlen, so etwas zu tun, und ich würde es selbst auch nicht mehr machen." Unterwegs traf sie eine andere hochschwangere Somalierin - "Mutter und Kind sind in Libyen gestorben."

"Ich habe zwischendurch auch bezweifelt, dass ich diese Tortur überlebe", sagt Rahma Abukar Ali und streichelt Sophia, die vergnügt gluckst und vor sich hinbrabbelt. Doch die Somalierin hat mehr Glück, schafft es, auf Lastwagen zwischen anderen Flüchtlingen eingepfercht die Sahara zu durchqueren und findet sogar einen Menschenschmuggler aus Nigeria, der Mitleid mit ihr hat und sie in Libyen auf einem Boot in Richtung Italien unterbringt.

"Ich wollte nur in ein sicheres Land in Europa, an Deutschland habe ich da noch gar nicht gedacht." Die Afrikanerin ist sich auch nicht bewusst, wie gefährlich die Überfahrt sein würde. Doch ein britisches Marineschiff entdeckt rechtzeitig die vier kleinen Boote mit insgesamt 453 Menschen an Bord, darunter die mutige Frau, rettet sie alle und übergibt sie auf hoher See der deutschen Fregatte "Schleswig-Holstein".

Was dann geschieht, schildert die Deutsche Marine so: "Die allein reisende Somalierin Rahma Abukar Ali aus Mogadischu bringt am 24. August 2015 um 04.15 Uhr an Bord der Fregatte ,Schleswig-Holstein' auf der Position 37 Grad nördlicher Breite und 16 Grad 27 Minuten östlicher Länge ein Mädchen zur Welt. Es trägt den Namen Sophia, ist 49 cm groß, wiegt 3000 Gramm und ist wohlauf. Aus der Besatzung helfen Stabsarzt Marius S. und Obermaat Charlie M. bei der Geburt."

Die Bundeswehr leitet in Tarent die Geretteten an die italienischen Behörden weiter, Mutter und Tochter kommen sofort in ein Krankenhaus. Der Name Sophia geht auf das Funkrufzeichen SX ("Sophie X-ray") des früheren Zerstörers "Schleswig-Holstein" zurück, der bis 1994 in Dienst war, ist später zu erfahren. Weil in Somalia keine Mädchennamen existieren, die auf "ie" enden, heißt das Kind "Sophia" - zur Freude der Mutter, denn er ähnelt sehr dem traditionellen somalischen Mädchennamen "Saffiya". Wenig später benennt die EU ihre Marineoperation im zentralen Mittelmeer zur Bekämpfung des Menschenschmuggels offiziell nach dem Baby. Von der kleinen Namensgeberin und ihrer Mutter verliert sich indes zunächst jede Spur.

"Wir waren beide sehr geschwächt", sagt Rahma Abukar Ali. Ihre Odyssee hat aber in Italien noch lange kein Ende. Sie erinnert sich, wie freundlich die Bundeswehrsoldaten waren und versucht daraufhin mit Hilfe anderer Somalier, nach Deutschland zu kommen. "Ich dachte: Das ist das beste Land. Die haben mich doch gut behandelt." Mit dem Zug geht es nach Frankfurt am Main, dann nach Gießen und Bielefeld. Am 17. September 2015 beantragt sie Asyl, hat erneut großes Glück: Zelte seien keine passende Unterkunft für Mutter und Tochter, stellen die Behörden fest und schicken sie nach Gelsenkirchen. Die Stadt setzt auf dezentrale Unterbringung.

Jetzt wohnt sie in einer recht geräumigen Wohnung im Stadtteil Buer mit Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer, aufs Foto will sie lieber nicht. Sie telefoniert, wann immer es finanziell vertretbar ist, mit ihren Kindern im fernen Ostafrika, der Älteste ist erst zwölf Jahre alt, und sucht nach einem Sprachkursus mit Kinderbetreuung und später einer Arbeitsstelle. Erste Brocken Deutsch hat sie durch das Fernsehprogramm gelernt. Zur Verständigung reicht es aber noch nicht, so dass eine Dolmetscherin helfen muss. "Ich würde gern hierbleiben, damit Sophia eine Zukunft hat", sagt Mutter Rahma Abukar Ali. Ihr größter Wunsch ist es, auch die Geschwister der kleinen Sophia so schnell wie möglich nach Deutschland zu holen. "Ich vermisse sie doch so sehr."

(mic)
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