Robbenbabys und Vogelküken Zur Hochsaison auf Helgoland

Helgoland · Robbenbabys am Strand und Vogelküken, die sich spektakulär von Felsen stürzen - auf Helgoland bekommen Urlauber einen besonderen Zugang zur Natur. Und zur Zeit.

Die Uhren ticken schon während der Fahrt mit dem "Halunder Jet" anders. Morgens legt die Schnellfähre im Hamburger Stadtteil St. Pauli an den Landungsbrücken ab und fährt dreieinhalb Stunden über die Elbe raus auf die Nordsee bis nach Helgoland. Aber gefühlt kann es deutlich länger dauern. Das hängt ganz vom Wetter ab.

An diesem Tag im Juni weht nur ein leichter Wind, das Schiff schaukelt wenig. "Aber ich werde leider schnell seekrank", gibt ein Passagier aus der Schweiz zu. Dass er mit grünlichem Gesicht über der Reling hängt, ist ihm doch zu peinlich. Wenn er im Herbst auf die Insel fährt und es richtig stürmt, sei es noch schlimmer, sagt er. Aber er sei ein großer Helgoland-Fan: "Ich bin seit 15 Jahren immer wieder für eine Woche da, und die fühlt sich an wie ein langer Urlaub."

Die Insel empfängt ihre Besucher mit viel Sonne und frischer Luft. Aber ohne jeden Chic. Vom Anleger führt ein schlichter Weg zu einer Reihe bunter Hütten. Das sind Nachbauten der Hummerbuden, in denen die Fischer früher arbeiteten. Heute spielt der Fischfang nur noch eine kleine Rolle. Aber die Hummerbuden in ihren Tuschkastenfarben hat man als Touristenmeile nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut.

Wer über das höher gelegene Inselplateau, das Oberland, spaziert, entdeckt zwischen friedlich grasenden Schafen zum Beispiel einen tiefen Krater. Daneben steht ein Schild: "Trichter einer 5000 Kilogramm-Bombe". Am 18. und 19. April 1945 schlugen diverse solcher Bomben bei einem Angriff der Briten auf Helgoland ein, erfährt man bei einer Inselführung mit Rolf Blädel. "Hitler wollte die Insel zu einer gigantischen Festung ausbauen, um von hier seine Kriegszüge zu starten", erklärt er. Das Ganze hieß "Projekt Hummerschere".

Die Nazis hätten diesen Wahnsinnsplan zwar nicht umgesetzt, aber Bunkeranlagen mit kilometerlangen Tunneln in den Felsen errichtet, erzählt Blädel, als er die Touristen in die unterirdischen Gänge führt. Der Angriff der Briten war deshalb kein Zufall. Fotos von Staubwolken und Trümmerhaufen erinnern an das Bombardement, bei dem fast 300 Menschen getötet wurden.

Zwei Jahre später starteten die britischen Besatzer den "Big Bang". Um die militärischen Anlagen zu zerstören, hätten sie auf Helgoland mit 6700 Tonnen Sprengstoff die größte konventionelle Explosion ausgelöst, die es bis dahin weltweit gab, sagt Blädel. Danach war fast alles kaputt. 1952 gaben die Briten den Helgoländern ihre Insel zurück. Damals mussten diese ganz neu anfangen.

"Fast sämtliche Häuser auf Helgoland stammen aus dieser Zeit des Wiederaufbaus", sagt Blädel. Der Charme vergangener Zeiten zeigt sich bei einigen Häusern auch beim Inventar. Im "Café Krebs" steht ein Röhrenfernseher in der Ecke, Tiffany-Lampen hängen von der Decke und Spitzengardinen vor den Fenstern. Man bestellt hier keinen Latte Macchiato, sondern "Helgoländer Klippenkohl", einen Kräutertee.

"Bei uns im Hotel gibt es alte Cocktail-Tische, und jede Lampe ist ein Unikat", schwärmen Beate und Jürgen Kunert aus Dortmund. "Alles ist im Stil der 50er Jahre." Dem Paar gefällt, dass dies auf Helgoland eben kein Retro-Chic ist, sondern Original. Neues Material hierherzubringen, war stets teuer. Auch deshalb hat man die Dinge gepflegt. Die Insel hat sich aus der Schnelllebigkeit der Gegenwart ausgeklinkt. "Helgoland wirkt auf mich wie eine Außenstelle der Zivilisation", sagt Jürgen Kunert. Seine Frau nickt: "Keine Autos, fast keine Fahrräder. Alles ist so entspannt."

Das genießen viele Urlauber. Karin und Karl-Josef Ludwigs, beide 62 Jahre alt, haben gerade in der Hochzeits-Hummerbude geheiratet. "Es taktet deutlich langsamer als bei uns in Wuppertal", sagt der Bräutigam. "Das gefällt uns sehr gut." Das Stichwort lautet Entschleunigung, und damit entspricht ausgerechnet Helgoland dem Zeitgeist.

Bis zur Mittagszeit sind neben den Insulanern nur die Urlauber da, die über Nacht bleiben. Dann rücken massenweise Tagesgäste an. Sie genießen die Seeluft oder den Einkauf zollfreier Waren, bis sie nach rund drei Stunden wieder abreisen. "Das Schöne ist, dass es ab 16 Uhr ruhig wird, und dann wird man selbst auch ganz ruhig", findet der 57 Jahre alte Martin Geisau aus Flensburg.

Die Insel ist mit einem Quadratkilometer so überschaubar, dass man an einem Wochenende viel entdecken kann: zum Beispiel das Museum mit der Ausstellung über den Helgoländer Kinderbuchautor James Krüss, die Vogelwarte, das Hummeraufzucht-Projekt oder die Kegelrobben und Seehunde, die sich auf der Düne aalen. So heißt Helgolands kleine Nebeninsel.

Im Frühjahr und Herbst machen zahllose Zugvögel auf der Insel Rast. Im Winter bringen die Kegelrobben ihren Nachwuchs zur Welt. Im Sommer stürzen sich Küken der Trottellummen in einem spektakulären Schauspiel von den Klippen zu ihren Vogeleltern ins Meer. Einige Urlauber passen sich diesem Zeitplan an. "Ich komme jedes Jahr einmal, um die Robbenbabys zu sehen, und einmal zum Lummensprung", sagt Jasmin Tackmann aus Hamburg.

Während der Lummentage im Juni ist auf Helgoland Hochsaison. Dann strömen auf die Insel mit ihrer reichen Vogelwelt noch mehr Ornithologen als sonst. Ausgestattet mit Ferngläsern und Fotoapparaten mit riesigen Objektiven harren einige stundenlang aus, um ein Küken im Sprung abzulichten. "Das mache ich aber nicht", sagt die 36-jährige Tackmann. Sie entdeckt mit ihrer Kamera lieber andere Insel-Details: zum Beispiel den Austernfischer, der Urlauber um Würstchen anbettelt. "Ich habe Tausende Fotos von Helgoland." So hält sie ein wenig von dem besonderen Zeitgefühl auf der Insel fest.

(dpa)
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