Wo die Uhren anders ticken

Im Hinterland der Côte d'Azur hat die französische Forstbehörde ein beeindruckendes Wandererlebnis geschaffen: Wer hier durch die imposante Berglandschaft streift, schläft in Dörfern, die es eigentlich nicht mehr gibt.

Jean-Luc Rouquet schiebt seine Brille auf die Nase und lächelt. Der 60-jährige Franzose mit dem schneeweißen Haar und der Förster-Uniform steht mit einer Gruppe Wanderern vor der Steinfassade der Gîte de Rabioux. Gemeinsam betrachten sie die imposanten Flügeltüren und hölzernen Fensterläden des hübsch renovierten Refugiums auf 1300 Metern Höhe inmitten der südfranzösischen Haute-Provence. Rechts und links ragt dunkelgrüner Lärchenwald hervor. Daneben erinnern Ruinen an längst vergangenes Leben - eine Schule, eine Kirche. Nur die bombastischen Gipfel der Aurouze-Berge wachen noch immer über den friedvollen Flecken im Hinterland der Côte d'Azur.

"Dies ist das letzte erhaltene Wohnhaus des einstigen Dorfs Rabioux. In mühevoller Kleinarbeit haben wir es instand gesetzt. Jetzt steht es Wanderern auf einem schönen Rundpfad als Unterkunft zur Verfügung", erklärt Rouquet. Mit "wir" meint er den ONF, den Office National des Forêts, die staatliche französische Forstbehörde, die mit ihrem Projekt Retrouvance - was so viel heißt wie Wiederentdeckung - die Erinnerung an die alten provenzalischen Siedlungen am Leben halten will. "Vor über hundert Jahren hat hier eine ganze Dorfgemeinschaft gelebt, mit spektakulärem Blick auf das Tal." Jean-Luc zeigt auf grüne Wälder, die kilometerweit die Berghänge entlang wachsen, auf einen Fluss, der so heißt wie das Dorf. Steinadler kreuzen in der Luft. Wer Glück hat, sieht ein Mufflon oder einen Hirsch.

Rabioux ist eines der zahlreichen, bereits im vergangenen Jahrhundert von seinen Bewohnern verlassenen Bergdörfern in der Provence. Wären da nicht der ONF und der unermüdliche Monsieur Rouquet, die Dörfer wären längst in Vergessenheit geraten - und die gesamte Region dazu. Denn der schöne Ausblick trügt. Mühsam und entbehrungsreich war das Leben in der abgeschiedenen französischen Bergwelt. Als die Industrialisierung ihren Aufschwung nahm, wurden sämtliche Bäume gefällt und als Rohstoff verkauft. Das lohnenswerte Geschäft hatte dramatische Folgen für die Natur: Erosion und Schlammlawinen zerstörten die kargen Felder, die Lebensgrundlage der Bergbauern. Man verkaufte Haus und Hof an den Staat, zog in fruchtbare Regionen um.

In Agnielles, zwei Wanderetappen von Rabioux entfernt, sitzen heute Touristen im ehemaligen Gutshaus einer Großfamilie. Über den Pass Lautaret sind sie gewandert, durch den scheinbar leblosen Weiler La Cluse, der trotz atemberaubender Bergkulisse nur in den Sommermonaten bewohnt ist. Jetzt genießen sie Entenschenkel mit Ratatouille, dazu Landwein und Lindenblütentee. Dafür sorgt die junge Französin Coralie, die das Gepäck der Wanderreisenden per Auto von Station zu Station transportiert, ihnen morgens das Frühstück und abends ein lokaltypisches Dreigänge-Menu serviert. Coralie ist eine von rund 200 Provenzalen, die seit Beginn des Retrouvance-Projekts im Jahr 1996 jedes Jahr wieder einen sicheren Arbeitsplatz finden: als Busfahrer, Restaurator, Koch, Logistiker.

Dass man sich nun an die Wiederbelebung der einstigen Dörfer wagt, mag an der beharrlichen Wiederaufforstung des ONF liegen. "Heute wird jeder Baum von uns katalogisiert, nach 20 Jahren gefällt und verkauft", weiß Michaël Reboule, ONF-Försterkollege im Haut-Verdon. Inzwischen sind neben den bewährten österreichischen Schwarzkiefern auch Berg- und Aleppo-Kiefern hinzugekommen und zeugen von einer intakten Waldlandschaft. Im Haut-Verdon sieht man sie überall, auch auf dem Weg nach Peyresq.

Im schönsten der einst verlassenen Provence-Bergdörfer ticken die Uhren scheinbar noch heute so wie vor 100 Jahren. Auf einem Felsplateau gelegen, ragen Hausfassaden aus den Bergwänden, hölzerne Balkone laden zum Verweilen ein, grasgesäumte Schotterpisten führen durch mittelalterliche Gassen. Thymianduft liegt in der Luft. Jahrhundertelang war das Dorf ein Grenzposten zwischen Frankreich und dem italienischen Herzogtum Savoyen. Heute zieht es Professoren, Wissenschaftler und Künstler aus der ganzen Welt zum Austausch und Studieren in dieses neue, alte Dorf ohne Straßen, das nun der Universität Brüssel gehört.

Was sehr abgelegen klingt, ist schnell erreicht. In zwei Stunden bahnt sich die Pinienbahn den Weg vom mondänen Nizza an der Côte d'Azur hinauf in die Berge. Sie hält an ehemaligen Stationen, deren Wartehäuschen nun mancherorts schöne Cafés sind, und schließlich am Bahnhof Thorame. Einsam und verlassen liegt er da, wie der Drehort eines Kinofilms.

Die Redaktion wurde von Wikinger Reisen zu der Reise eingeladen.

(RP)
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