Deutschlandreise Sylt - seit 40 Jahren faszinierend

Unser Autor Knut Diers war als Kind oft auf der Nordsee-Insel und ist begeistert, als Erwachsener die Orte seiner Kindheit wiederzufinden. Denn Sylt hat sich zwar geändert - aber nicht komplett.

Das sind Deutschlands schönste Strände
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Das sind Deutschlands schönste Strände

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Foto: shutterstock/ papillondream

Sturmflut. Meterhohe Wellen rollen auf den Strand von Wenningstedt zu. Ihre Schaumkronen klatschen gegen die Steilküste von Sylt. Der 38 Kilometer lange Weststrand gibt keine Zehenbreite mehr frei zum Gehen - heute regiert das Meer. "Wir müssen die Strandkörbe retten", schallt es von unten herauf. Meine Eltern und ich stehen an der Treppe, die von der Seestraße hinab zum Meer führt, mit etwa 20 anderen Urlaubsgästen zusammen und starren in das wildgewordene Stück Nordsee. Mein Vater krempelt sich die Hosenbeine hoch und geht barfuß hinab in die schaumigen Ausläufer der Wellen, die längst die Strandkörbe zum Treibgut gemacht haben. Mitarbeiter der Kurverwaltung wuchten ein paar Exemplare auf einen Anhänger.

Mich als Achtjährigen beeindruckte das Schauspiel in vielerlei Hinsicht: Mein Vater machte sich die Hosenbeine nass wegen der Strandkörbe. Er begab sich in Gefahr. Warum halfen die anderen nicht? Was bedeutete es, dass die Möwen kreischend über das Meer aus Schaum flogen? Was wurde aus der Treppe, auf der wir standen? Wieso leuchtete die Sonne so hell und stellte die tosende Szenerie mit Windgeheul bei blauem Himmel mit weißen Wolken in ein unpassend heiteres Licht?

Seitdem sind weit mehr als 40 Jahre vergangen. Jetzt bin ich genau wieder an der Stelle in Wenningstedt, wo diese Sturmflut toste und meine Familie in der Nähe seit Ende der 1960er Jahre einmal im Jahr Urlaub machte. Das Meer ist heute ruhig, der Himmel grau, keine Möwe schreit. Der Strand hat eine einladende Breite, weil Ebbe herrscht. Eine ganz andere Holztreppe als damals führt hinab zum Strand. Dann steigt mir der Duft der Heckenrosen in die Nase. Da ist es wieder, das Gefühl meiner Kindheit. Diese Rosen blühen dunkelrosa und wurden einmal aus Ostasien eingeschleppt. Sie vermehren sich durch ihre unterirdischen Ausläufer rasant und zieren den nahen Rad- und Fußweg zur Nordseeklinik Richtung Westerland.

Unterwegs auf den Traumpfaden der Kindheit - was für eine Abenteuerreise. Das Reethaus von damals, in dem wir wohnten, steht noch. Sehr viele Menschen müssen in "unserer" Ferienwohnung inzwischen gewohnt haben. Meine Mutter hatte damals die grandiose Idee, morgens um fünf Uhr zum Lister Hafen zu fahren. Da legten die Kutter mit fangfrischer Ware an. Wir kauften ein paar Schollen. Ich rieb mir die Augen, besah mir die großen Krabbenbestände im Schiff und wollte auch davon probieren. In der Wohnung bereiteten wir das Frühstück, wozu auch frische Brötchen aus List gehörten, als es plötzlich in der Küche klopfte. Erschrocken rannten wir hin um nachzuschauen. Die frischen Schollen zuckten mechanisch und verwiesen hörbar auf ihr Schicksal.

Heute schwimmt nur noch ein Kutter im Hafen, dafür ankern öfter in Sichtweite Kreuzfahrtschiffe. Der Fischer Paul, der in seinem Haus gern noch Krabben verkauft und kostenlos Anekdoten seines Seefahrerlebens beisteuert, hat ihn an einen Nachfolger übergeben. Krabben pulen oder Austern essen geht auch in List, denn seit einiger Zeit werden sie dort im Wattenmeer auf Eisenbänken gezüchtet. Am Hafen steht noch die "nördlichste Fischbude Deutschlands", doch hat der Besitzer Gosch seinen Fisch- und Andenkenverkauf vergrößert und zu einem landesweiten Imperium erweitert. Der Name ist längst eines der Sylter Markenzeichen.

Dann dieser Ellenbogen: Ich weiß noch, wie gern ich diesen Namen aussprach. Als Kind weckt so eine anschauliche Landschaftsbezeichnung die Fantasie. Ein Körperteil, das man begehen kann, ist schon besonders. Der Ellenbogen liegt mit etwas Unterarm aber ohne Hand in den Wellen am nördlichen Ende von Sylt. Der Oberarm ist kurz, doch konnten auf dem Bizeps Wanderdünen Platz finden - die einzigen in Deutschland. Wer auf die Wölbung seines Bizeps den Lister Hafen malt, kann ihn durch Anspannen und Lösen des Muskels tanzen lassen - ein herrliches Spiel. Auch die eigentümliche Form von Sylt veranlasste mich schon als Kind, sie ständig irgendwohin zu malen. Mal in den Sand, mal ins Schulheft, mal biss ich meine Brotscheibe in der Syltform zurecht und präsentierte sie stolz meinen Eltern.

Schon damals hatte ich die Strandtage auf Sylt sehr gern. Jetzt konnte ich sie genießen und einordnen in die lange Reihe von Stränden dieser Welt, die ich inzwischen gesehen habe. Die Odde an der Südspitze hat arg gelitten unter den Sturmfluten. Jedes Jahr spülen Stürme Tausende Kubikmeter Sand davon. Vor 15 Jahren dauerte die Südumrundung Sylts zu Fuß am Strand entlang noch drei Stunden, heute ist es in einer Stunde zu schaffen. Als ich nun dort langging, sah ich erstmals wieder Tetrapoden. Diese vierfüßigen Betonklötze waren damals auch bei Wenningstedt am Strand aufgetürmt. Sie sollten die Wellen brechen und die Steilküste schützen. Später räumte man sie wieder weg, weil sie ihre Aufgabe nicht bewältigt hatten.

Ich erinnere mich noch, wie ich mit meinen Eltern im Auto nach Hörnum fuhr. Die Straße war damals noch einspurig und hatte Haltebuchten. Oft musste mein Vater zur nächsten Standfläche zurücksetzen, wenn unerwartet von vorne ein Auto kam. Auch die Inselbahn fuhr noch. Wir warteten in Wenningstedt öfter auf die "rasende Emma". Sie fuhr so langsam, dass man gemütlich nebenher laufen konnte. Die Schmalspurbahn stellte 1970 ihren Dienst ein. Unvergessen sind ihr langes Tuten und ihre Spitze. Sie sah vorne aus wie ein Lastwagen mit einer langen Motorhaube. Eines dieser Exemplare, das bis 2013 im Sehnde-Wehminger Straßenbahn-Museum bei Hannover stand, soll gerade restauriert werden. Die Schienenstrecke dient heute als Radweg von List bis Hörnum.

Nicht mehr wiedersehen werde ich hingegen meinen alten Frisörladen in Wenningstedt, in den mich meine Eltern einst gezwungen hatten. Er stand zu dicht am Wasser. Eine der Sturmfluten höhlte das Kliff gehörig aus, und dann stürzten die ersten Wände herunter. An dem Strandübergang steht nun das neue "Haus am Kliff". Die moderne Architektur, die Läden, der Saal für Veranstaltungen - das alles soll ewig vom Absturz verschont bleiben. Der Abstand zum Kliff scheint groß genug. Eher würde vermutlich die wellenförmige Gosch-Fischverkaufsanlage ein Raub der Nordsee. Das wäre auch schade.

Mein Sylt scheint ohnehin ungefährdet zu sein. Zu sehr verfestigt haben sich die Kindheitserinnerungen, zu sehr sind die Traumpfade von einst auch die von heute. Was für ein Glück! Bei jeder neuen Rückkehr die Insel abfahren. Nachsehen, was sich so verändert hat, das ist das Ziel.

Sylt wird durch die Menschen geprägt, die sie betreten, aber es hält ihnen auch den Spiegel vor - Stoff für eine lebenslange Freundschaft.

(RP)
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