Wandern zum Mittelmeer Quer zum Jakobsweg durch die Pyrenäen

Cauterets · Steinmännchen und rot-weiße Markierungen weisen den Weg: Der Fernwanderweg GR 10 durch die Pyrenäen führt vom Atlantik bis zum Mittelmeer. Er ist ein Weg für moderne Pilger, der quer zu der Strecke nach Santiago de Compostela verläuft.

Quer zum Jakobsweg durch die Pyrenäen
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Quer zum Jakobsweg durch die Pyrenäen

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Im weichen Waldboden hinterlassen die Wanderstöcke kleine Löcher. Vogelgezwitscher ist zu hören, sonst nichts. Der schmale Weg windet sich den Hang hinauf. Kiefern und Buchen filtern das Sonnenlicht. Da ist es wieder: das Pyrenäengefühl. Unterwegs sein, nur das Nötigste im Rucksack. Der Fernwanderweg GR 10 hat uns wieder, der durch die gesamten Pyrenäen führt, vom Atlantik bis zum Mittelmeer.

Seit drei Jahren laufen wir jeden Sommer eine Woche auf ihm. Wenn wir so weitermachen, kommen wir etwa in sieben Jahren in Banyuls an. Unterwegs treffen wir aber auch immer wieder Wanderer, die die ganze Strecke am Stück gehen. Etwa zwei Monate braucht man dafür. Häufig sind es Menschen, die an einem Wendepunkt stehen - ein Student nach der Abschlussarbeit, jemand, der einen neuen Job anfängt, ein anderer, der gerade in Rente gegangen ist.

Es ist ein Pilgerweg ohne religiöse Konnotation, ohne Esoterik. Ein Anti-Jakobsweg, der quer zu der in Mode gekommenen Strecke nach Santiago de Compostela verläuft. Statt des Muschelsymbols weisen rot-weiße Balken den Weg, auf Baumstämme oder Felsen am Weg aufgepinselt. In unübersichtlichem Gelände werden sie durch Steinmännchen ersetzt.

Schafe begleiten Wanderer

Als wir aus dem Wald herauskommen, empfängt uns leises Glockengebimmel. Eine Herde zotteliger Schafe zieht grasend über eine Bergwiese. Auf den Rücken tragen sie blaue Markierungen, als habe ein Graffitisprayer sich an ihnen versucht. Aus dieser Wolle wird wohl niemand mehr etwas stricken, aber sie sollen ja auch in erster Linie Milch für den Pyrenäenkäse liefern. Der schmeckt besonders würzig, weil in den Pyrenäen so viele aromatische Pflanzen wachsen.

Ein gutes Pfund davon tragen wir in unserem Rucksack, und eigentlich wäre es bald Zeit für ein Picknick. Davon hält uns jedoch das tiefe Gebell eines Hirtenhundes ab, der sorgfältig darauf achtet, dass wir seiner Herde nicht zu nahe kommen. Ein Patou, wie die Rasse mit ihrem hellen Wuschelfell genannt wird, wächst von klein auf mit der Schafherde auf und verteidigt sie später gegen alle Bedrohungen - von neugierigen Wanderern bis hin zu Braunbären, die in den vergangenen Jahren in den Pyrenäen wieder angesiedelt wurden.

Im Örtchen Borce, wo wir am Abend müde und sonnenverbrannt eintreffen, kreuzt der GR 10 erneut einen der Jakobswege. Wir übernachten in einer Pilgerherberge, die aus einem kleinen Steinhaus mit einer Küche und zwei Mehrbettzimmern besteht. Die Tür ist unverschlossen. "Herzlich willkommen, richtet Euch ein, ich komme später vorbei", steht auf einem Zettel, den die Herbergswirtin hinterlassen hat. Wie schön, nach einem langem Wandertag auf solche Gastfreundschaft zu stoßen.

Am nächsten Tag führt der GR 10 dicht an den Rand des Abgrunds: Der Chemin de la Matûre ist ein schmaler Pfad, wie von einem Riesen als Rille in eine mächtige Felswand gekratzt. Tief unten: die Höllenschlucht, die tatsächlich so heißt.

Es geht steil hinauf, bald lassen wir das saftige Grün hinter uns und laufen über Felsen. Der Col dAyous (2185 Meter) bietet den ersten Blick auf den gebirgigsten Teil der Pyrenäen mit ihren rauen Felsen, gescheckt mit Schneefeldern. Der Pic du Midi dOssau (2884 Meter) erhebt sich pyramidenförmig, graue Geröllfelder und dunkelgrüne Waldflecken bilden seine Basis. Der strahlend blaue Himmel spiegelt sich in zwei kleinen Seen. Als wir später an ihnen vorbeiwandern, staunen wir, wie klar das Wasser ist.

Der GR 10 ist zwar alles andere als überlaufen, und die Etappen sind recht flexibel - aber abends treffen sich doch häufig dieselben Wanderer in den Hütten. "Na endlich, wir dachten schon, Ihr habt Euch verlaufen", bekommen wir zu hören, als wir in Gabas eintreffen. Der Hüttenwirt stellt die "garbure" auf den Tisch, eine sämige Gemüsesuppe, die stundenlang vor sich hingeköchelt hat und besonders köstlich schmeckt wenn man die vielen Höhenmeter in den Beinen spürt, die hinter einem liegen.

Unter den Wanderern entsteht schnell Solidarität. Man stöhnt gemeinsam über Muskelkater, man amüsiert sich über andere Wanderer. "Dieser Typ, der meinte, er brauche keine Reinigungspillen für das Wasser und der direkt aus dem Bach getrunken hat", erinnert sich einer mit schadenfrohem Grinsen. "Der hat anschließend die halbe Nacht auf der Toilette verbracht." Oder die niederländische Rentnerin, die sich auf dem Pass erstmal eine Zigarette ansteckte.

Die nächste Etappe bis nach Gourette ist die längste der Woche: Knapp zehn Stunden reine Gehzeit veranschlagt der Wanderführer. Zum Wachwerden gibt es eine Passage, die eine gute Portion Schwindelfreiheit verlangt. Der Weg ist nicht viel breiter als ein Rucksack, links davon geht es steil ins Tal hinab. An der Felswand rechts ist immerhin ein Drahtseil befestigt. "Wie war die Aussicht?", fragt uns später ein anderer Wanderer. "Ich habe nichts gesehen außer dem Drahtseil", gesteht er lächelnd.

Pfeifende Murmeltiere

Der Weg führt mitten durch den Nationalpark, weit und breit keine Spur von Zivilisation. Nur Murmeltiere pfeifen uns frech hinterher. Ein Raubvogel lässt sich vom Auftrieb durch die Luft tragen. Wir haben es schwerer. Irgendwann endet der schmale Weg, wir stehen vor einer gewaltigen Geröllhalde, die in ein Schneefeld übergeht.

Hourquette d'Arre heißt die Scharte, die den herrlichen Blick ins nächste Tal freigibt. Wir haben uns 2465 Meter erarbeitet und sind stolz, erschöpft und hungrig. Im Schatten einer kleinen Hütte wird alles vertilgt, was der Rucksack hergibt: Baguette mit Pyrenäenkäse, Äpfel, Schokoladenkekse.

Im Unterschied zu den Alpen gibt es in den Pyrenäen nur wenig Wintersportorte. Mitten im Sommer haben Orte wie Gourette etwas Deprimierendes. Sessellifte hängen bewegungslos in der Luft. Metallröhren, die im Winter Kunstschnee erzeugen helfen, stecken wie Schaschlikspieße in der Landschaft. Die Erosionsschäden auf den Pisten sind so deutlich, dass sie auch begeisterte Skifahrer ins Grübeln bringen.

Am nächsten Tag ist Schluss mit Sonnenschein. Es hatte uns schon gewundert, so lange ohne Regenjacke ausgekommen zu sein. In den Pyrenäen regnet es häufig, deswegen sind sie auch so schön grün. Gerade lagen wir in der Mittagspause noch ausgestreckt in der Sonne, da fallen schon die ersten Tropfen. Der Wetterumschwung dauert keine drei Minuten. Eilig stopfen wir alles in Plastiktüten.

Mittlerweile ist das Département Hautes-Pyrénées erreicht. Das klingt nach Hochgebirge. Aber erst geht es wieder ins Tal hinunter, nach Arrens. In einem festungsartigen Gebäude am Ortseingang wurden früher Kriegsversehrte gepflegt. Zur Fête de la Musique spielt eine Drei-Mann-Gruppe auf dem Dorfplatz Mitsing-Schlager, zu denen die Alten den Takt klatschen und die Kinder ausgelassen herumtoben.

Der Nebel hängt tief im Tal, als wir weiterziehen. Alles ist feucht, an den Grashalmen kleben dicke Tropfen, ein Spinnennetz hat sich unter dem Gewicht der Wasserperlen zu einem glitzernden Körbchen verformt. Je höher wir kommen, desto dichter wird der Nebel. Eine Herde von Schafen ist nur schemenhaft erkennbar. Feiner Sprühregen bringt die Haare zum Kringeln.

Schlafen in Berghütten

Der Name des Ziels sorgt für Belustigung. "Lac Ilhéou" heißt der Bergsee, an dem die kleine Hütte liegt, in der wir übernachten wollen. Es klingt wie "il est où?", auf deutsch: Wo ist er? Gute Frage, denn bei dem Wetter ist er selbst dann nicht zu sehen, wenn man schon fast am Ufer steht.

Uns erwartet eine ordentliche Berghütte, in der es weder Strom noch Handyempfang gibt, dafür aber ein großes Matratzenlager mit Decken, die noch aus dem Ersten Weltkrieg stammen könnten. Statt einer Dusche gibt es eine Katzenwäsche mit kaltem Wasser bei Kerzenlicht. Bislang waren wir von Schnarchern verschont gewesen, aber in dieser Nacht gibt es ein Konzert, dessen Highlights selbst die orangene Schaumstoffbarriere der Ohrstöpsel durchdringen.

Am letzten Wandertag geht es nur noch bergab, hinunter nach Cauterets. Schade, wir waren gerade so gut im Rhythmus. Der Alltag war herrlich weit weg. Eine Woche lang war die wichtigste Frage des Tages: Wo picknicken wir heute? Die abendliche Routine: duschen, T-Shirt waschen, essen, mit sich und der Welt zufrieden in den Schlafsack kriechen.

Ein Jakobspilger steht am Ende seiner Reise vor dem Reliquienschrein des Apostels Jakobus - dem GR-10-Wanderer bietet sich der weltlichere Genuss eines Thermalbads. Das Dampfbad erinnert entfernt an die Nebelschwaden auf dem Berg. Bei der anschließenden Massage tauchen die schönsten Bilder der Wanderung vor dem inneren Auge auf, und alle Mühsal ist vergessen.

(dpa)
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