Für Pioniere und Entdecker Kamtschatka: Land aus Feuer und Eis

Petropawlowsk-Kamtschatski (RPO). Es war ein Deutscher, der als erster fremdländischer Reisender in Europa die Vorzüge dieses wilden Fleckens am Ende der Welt pries. "Ohnerachtet der verdrießlichen Witterung ist Kamtschatka eine der gesündesten Landschaften, so nur zu finden sein mögen", notierte der Arzt Georg Steller 1733.

Beim Baden in einem heißen Thermalwassersee oder beim Picknick am Fuße eines Vulkans, wenn der frische Pazifikwind die Haut kribbeln lässt, stimmt man dem deutschen Teilnehmer einer Fernost-Expedition Vitus Berings von Herzen zu. Der "brennende Berg", der vor Stellers Augen "mit erschrecklichen Krachen in volle Flammen ausbrach", brennt nicht mehr. Sonst hat sich jedoch in den letzten 273 Jahren auf Kamtschatka nicht viel verändert. Noch immer lockt es Pioniere und Entdecker mit seinen unerforschten Geheimnissen. Die Menschen im fernen Land aus Feuer und Eis, das erst seit 15 Jahren für alle offen steht, möchten vor allem eines: besser leben.

Der Vulkan flüstert

Im Institut für Vulkanologie in Petropawlowsk-Kamtschatski zeichnet ein Seismograph das unhörbare Selbstgespräch des 2751 Meter hohen Bergs auf in Form einer zackigen Linie. Zu gerne möchte man erfahren, was der 20 Kilometer entfernte Awatschinski zu erzählen hat, der so viel Wärme produziert wie ein Heizkraftwerk. Zuletzt hat der rauchende Berg vor fünf Jahren Asche gespuckt, davor erbrach er 1991 binnen zwei Wochen 13 Millionen Kubikmeter Stein. "Er ist ein Schnellkochtopf mit schlecht zugeschraubtem Deckel", scherzt der Vulkanforscher Viktor Okrugin. Er prophezeit die nächste Eruption des Awatschinski in 50 Jahren.

Die Frage ist nur, ob Petropawlowsk sie erleben wird. "Wir erwarten hier irgendwann ein Erdbeben, welches 120.000 Einwohnern das Leben kosten könnte", erzählt Okrugin, während er von einem Hügel die malerische Awatscha-Bucht betrachtet. "Unsere Stadt ist zum Tode verurteilt, und die Menschen wissen das", sagt er. "Aber sie bleiben, weil sie Kamtschatka lieben. Und weil sie kein Geld haben, woanders hinzuziehen".

Ehemaliges Sperrgebiet

Es war seit jeher die Heimat der Mutigen und der Gestrandeten, das exotische Land mit dem rauen Klima und mit prächtiger Natur. Kamtschatka ist geologisch gesehen eine junge Region, deren Geschichte vom Kampf zweier Naturgewalten — der Vulkane und des Ozeans — handelt. Die Kosaken entdeckten die an Fisch und Pelztieren reiche Halbinsel im 17. Jahrhundert, damals nahm der Reiseweg aus Moskau ein Jahr ein. Flugzeuge verkürzten ihn auf neun Stunden. Doch auch im 20. Jahrhundert war die Halbinsel schwer erreichbar. Die Kommunisten erklärten sie zu einem Sperrgebiet, das kein Ausländer betreten durfte. Und sogar die Russen durften das Land der Vulkane nur mit KGB-Erlaubnis besuchen.

Der Grund für die Geheimhaltung war ein militärischer: Hier befanden sich Radars, mit denen Moskau das gegenüberliegende Amerika ausspähte. Kamtschatka war so wichtig, dass das Politbüro 1983 eine Boeing 747 mit 296 Menschen abschießen ließ, die auf dem Weg von Alaska nach Seoul unerlaubt die Halbinsel überflogen hatte. 1990 wurde die Isolation aufgehoben. Die Sowjetunion war weg, ein neues Leben begann. Es war von Niedergang und Armut bestimmt.

Armut trotz Reichtum unter den Füßen

"Freunde mussten uns aus Vilnius Zitronen schicken, damit meiner Tochter aus Vitaminmangel nicht die Zähne ausfielen", erinnert sich die Museumsführerin Larissa. Heute ist die Versorgung besser, nur verdienen die Leute nicht viel. "Ich gehe nicht in den Kindergarten, weil wir arm sind", sagt Wika, deren arbeitsloser Vater zu Hause betrunken liegt. "Ich will in den Norden. Dort kann man Schlitten fahren", träumt das Mädchen.

Die Militärs haben sich weitgehend von Kamtschatka zurückgezogen, sie haben eine zerfallende Infrastruktur hinterlassen, die aus Geldmangel nicht mehr gepflegt wird. Vielerorts sieht man riesige verlassene Truppenübungsplätze und Sanatorien, in denen einst die U-Boot-Fahrer nach den monatelangen Einsätzen wieder fit gemacht wurden. "Früher waren hier überall Soldaten", erzählt Computerexperte Wadim. "Wenn man heute Leute in Militäruniform sieht, dann sind das meistens Jäger, die nach Hasen Ausschau halten". Unterwegs zum Vulkan Mutnowski trifft man viele Männer mit Karabinern: Kamtschatka ist ein beliebtes Urlaubsziel für Jagdfreunde aus aller Welt geworden.

Der Weg zum Mutnowski führt durch herbstliche goldene Wälder, aus denen weiße Zuckerhüte der verschneiten Vulkane herausragen. Mutnowski ist bekannt für sein Erdwärme-Kraftwerk mit einer Leistung von 50 Megawatt, das 1999 gebaut wurde. Aus kilometertiefen Bohrlöchern zischt Wasserdampf, der auf Turbinen geleitet wird. Der abgekühlte Dampf wird in die Erde zurück gepumpt. "Das ist einmalig in der Welt", sagt stolz Schichtleiter Sergej Turow. Dann seufzt er: "Wir wollen die Kapazitäten verdreifachen, aber jemand blockiert die Erweiterungspläne". Die geothermische Energie vom Mutnowski ist sechs Mal billiger als die eines normalen Heizkraftwerks. Nach einem Ausbau der Anlage könnte sie ganz Kamtschatka mit umweltfreundlichen Strom versorgen. Doch daran sind die korrumpierten Bürokraten nicht interessiert, die an den teuren Heizöltransporten vom Festland auf die Halbinsel mitverdienen. Also bleibt alles beim alten. "Mit diesem Reichtum unter unseren Füßen könnten wir viel besser leben", sagt wütend Sergej.

Die Ausbeutung der Bodenschätze Kamtschatkas werde den Einwohnern Wohlstand bringen, verspricht die Regierung. Seit ein paar Jahren wird hier Gold gefördert. Auch der Nickel- und Kupferabbau ist angelaufen. Zudem will man durch die Naturschutzgebiete eine Gaspipeline bauen. Und die Energiekonzerne suchen an der Küste nach Erdöl. Nicht alle sind davon begeistert. "Was ist, wenn eine Umweltkatastrophe geschieht? Russland könnte ein Viertel seiner Fischressourcen verlieren", sagt die Umweltschützerin Olga Tschernjagina. Ihre Meinung teilen viele. Doch die Menschen auf Kamtschatka sehen auch keine Alternative zu den Regierungsplänen.

Natur berauben, um zu überleben

Sie wissen ohnehin, dass sie sich nicht auf den Staat verlassen dürfen, sondern nur auf eigene Kräfte. Die meisten plündern die Natur, um zu überleben. Wie Anton, ein Profi-Wilderer, der jedes Jahr im Juli aus einem Fluss statt der erlaubten 10 Tonnen mehr als 200 Tonnen Wildlachs herausfischt. Damit ihn die Behörden in Ruhe lassen, schmiert er jedes Mal die Polizei mit 8000 Euro. Der Verkauf des illegal hergestellten Kaviars macht Anton nicht reich, doch es langt für ein nettes Leben. "Klar machen wir so die Natur kaputt, aber was soll ich tun?" fragt der 40-Jährige. "Wenn ich nicht mehr zum Fluss komme, dann kommen die anderen. Außerdem habe ich nichts anderes gelernt".

Andere haben mehr Skrupel. Sergej schnitzt Figuren aus Holz und verkauft sie an Touristen. Oder auch nicht. "Alles besser, als zu wildern oder ständig zu saufen", sagt der Künstler. Auch Nastja will nicht so leben wie alle. Die 26-jährige Englischlehrerin arbeitete mit Touristen, bis sie auf einer Tour den deutschen Ingenieur Arne kennen lernte. Zwischen den beiden funkte es. Im November wird geheiratet — in Eisenach. "Es tut mir leid, Kamtschatka zu verlassen", sagt Nastja. "Aber ich habe das Beispiel meiner Schwester vor den Augen, die als Kindergärtnerin vom Staat seit Juni keinen Lohn kriegt. So möchte ich nicht leben".

Die Abreise naht. Nastja ist wehmütig. Am Freitag trinkt sie mit Freunden ein Bier in der Disko "Vulkan" in Petropawlowsk. "Vergnügungskomplex" steht über der Bartheke geschrieben für den Fall, dass einer vergessen hat, wo er sich befindet. Das ist durchaus möglich bei den enormen Mengen an Wodka, die die Männer und Frauen in sich hinein kippen. Um Mitternacht füllt sich die Tanzfläche mit glücklicher Jugend. Auch Nastja ist dabei. Während der alte Vulkan Awatschinski vor den Toren der Stadt weiter friedlich flüstert, bebt der Disko-Vulkan zum Sound der westlichen Rockmusik. Das hätte der deutsche Arzt und Kamtschatka-Entdecker Georg Steller bestimmt gerne erlebt.

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