Ferienbeginn Urlaub ist Opium fürs Volk

Kaum sind Ferien, belagern Touristen wieder den Planeten. Wer die Welt zerstören will, macht dort Urlaub. Ein Lob des Nicht-Verreisens.

 Diese Abgeschiedenheit!

Diese Abgeschiedenheit!

Foto: dpa

Die Leute fliegen jetzt wieder los, um sich mit Geparden und relevanten Bauwerken fotografieren zu lassen. Oder wenigstens vor einem Gewässer, in das ein Lastwagen mit Schlumpfeis gefahren sein muss. Die Koffer, die sie dafür durch die Terminals von Frankfurt und Paderborn ziehen, haben die Größe einer Blockhütte. Ihre Gesichter sind angespannt wie auf dem Weg zum Urologen. Dabei sind sie auf dem Weg nach Antalya, Rhodos, Palma, Alicante, Djerba und Bangkok. Um vieruhrdreißig ging der Wecker. Spätestens.

Jeden von ihnen möchte ich schütteln. Mich vor jeden Rollkoffer werfen. Und ich möchte ihnen sagen: "Lass das mit dem Urlaub. Es bringt doch nichts." Aber niemand ließe sich aufhalten. Sommer. Ferien. Es hat jetzt Urlaub zu sein. Erholung. Spaß. Deutschland ist dann mal weg. Nur ich nicht.

Meine schönste Urlaubserinnerung sind sieben Hot Dogs

Schon als Kind war ich nie so richtig weg. Während die Mitschüler zumindest mit dem Campingwagen nach Schweden fuhren, lernte ich auf mehrtägigen Radtouren mit meinen Eltern jede Jugendherberge des Rheinlandes kennen. Im Herbst besuchten wir die deutsche Küste. Ich vermisste nichts. Ein Flugzeug habe ich zweimal in meinem Leben bestiegen, Reykjavík hin und zurück, berufliche Gründe. Vor einigen Monaten buchte ich mit 32 Jahren zum ersten Mal selbst einen Urlaub. Fünf Tage verbrachte ich auf einer Hallig in der Nordsee. Statt Strand fand ich große schwarze Steine vor. Zum Schwimmen war es im November ohnehin zu kalt. Spanien, Frankreich und Italien habe ich nie betreten. Mein längster Auslandsaufenthalt waren zwei Wochen in Dänemark. Meine schönste Erinnerung daran ist, wie ich an einem Abend sieben Hot Dogs aß. Den Wanderurlaub mit meinem Vater in den Alpen brachen wir nach zwei Tagen ab, weil mein Zehnnagel eingewachsen war. Folgende ausländische Sehenswürdigkeiten von Weltrang kenne ich aus der Nähe: die Grachten in Amsterdam und den Asche speienden Eyjafjallajökull. Andere haben in meinem Alter fünf Kontinente besucht, ich komme gerade so auf fünf Länder. Die Leute bedauern mich. Dabei sollte ich sie bedauern.

Das beliebteste Urlaubsland der Deutschen im Sommer ist das Ausland. Zwei von drei Reisen buchen wir dorthin. Spanien führt vor Italien, Türkei und Österreich. Schlage ich einen Urlaubskatalog der Balearen auf, sehe ich Seite um Seite Hotels, die sich ausschließlich in ihrer Adresse, mit Zimmern, die sich nur in ihrer Größe, und Pools, die sich nur in der Zahl ihrer Palmen unterscheiden. Warum genau sollte ich auf Mallorca Bogenschießen ausprobieren? Wie genau sieht so eine baumelnde Seele aus? Haben die Verfasser dieser Sprachaushöhlungsprospekte das Adjektiv "mediterran" im Zwischenspeicher? Und glaubt irgendjemand, dass der Strand immer so leer ist wie auf dem Foto?

Urlaub ist Opium fürs Volk

Die Wahrheit ist doch, dass im Sommer ein Heer an Möbelhausmitarbeitern und Fleischereifachverkäuferinnen die Kataloglandschaften unter sich begraben. Die Seele hat gar keinen Platz zu baumeln, weil schon jemand sein Handtuch draufgelegt hat. Der Tourismus hat die Urlaubsorte so umgekrempelt und gleichgemacht wie der Kaufrausch die deutschen Innenstädte. Zwar unterscheiden sich die Fotos auf den Titelbildern der Kataloge, nicht aber die Motive. Spanien? Italien? Holland? Polen? Ganz egal. Hauptsache Sonne. Hauptsache Pool. Hauptsache Strand. Hauptsache billig. Und deutsches Bier gibt es auch. Früher meinte Riviera nur einen Küstenabschnitt in Italien und Frankreich. Mittlerweile gibt es sogar eine norwegische Riviera. Die Anflüge von Erholung, die nicht bei dem Versuch draufgehen, eine Lebensmittelvergiftung am Buffet zu vermeiden, oder die Kinder davon abzuhalten, in den Pool zu pinkeln, ist zwei Tage nach der Rückkehr ins Arzthelferinnendasein fort. Wenn Urlaub Opium fürs Volk ist, dann kein sehr gutes.

Aber die durch Alkohol verhaltensbeeinflussten oder von den eigenen oder fremden Kindern in den Wahnsinn getriebenen Pauschaltouristen sind vergleichsweise erträglich. Ihr Bedürfnis nach Erholung durch Sonne und Strand ist nachvollziehbar. Nichts aber entstellt einen Menschen mehr als Ambitionen an falscher Stelle, als das Verlangen, in Myanmar eine Manufaktur zu besuchen, in der aus Maulbeerbäumen Papier hergestellt wird. Individualtourismus, verkörpert durch die Gestalt des Backpackers, erhebt sich über den banalen Erholungsurlaub an überlaufenen Gewässern. Der Individualist hat 17 Semester Bedenkenträgerschaft studiert und pflegt die bequemste Art des Reisens. Urlaub und Kritik am Urlaub in einem. Reise und Meta-Reise. Bloß nicht für einen Touristen gehalten werden. Dass er aber dem Touri-Normalo gar nicht so überlegen ist, wie er glaubt, zeigt schon seine noch miesere Umweltbilanz. Bei keiner Tätigkeit pustet der Tourist so viel Kohlendioxid in die Atmosphäre wie beim Fliegen, und der moderne Marco Polo fliegt am weitesten. Individualtourismus beruht auf dem Irrtum, dass er dem Massentourismus überlegen ist. Dabei ist er bloß auf eine andere Art schlimmer.

Authentizität ist bloß das coolere Wort für Armut

Die Heimat des Anti-Touristen sind Südamerika und Südostasien. Falls er Geld hat, die afrikanischen Nationalparks. Einfach in den Urlaub fahren ist nicht drin. In jedem Buchladen legt das Ausmaß der Reise-Abteilung Zeugnis davon ab. Seine Ziele sind Freiheit und Erleuchtung, doch das bestmögliche fürs Geld will auch er. Nie würde er es sich verzeihen, wenn er nur auf der zweitschönsten Seite die Golden Gate Bridge überquerte. Denn eigentlich tut er es nur der Distinktion wegen. Urlaub ist ein Wettbewerb, der auf Instagram und Facebook ausgetragen wird. Hauptsache da sein, wo die anderen nicht sind. Er fühlt sich spirituell ergriffen, wenn er endlich Machu Picchu und Angkor Wat betritt. Wäre er zu Bauzeiten von Machu Picchu schon auf der Welt gewesen, er hätte die Arbeitsbedingungen und die Kosten kritisiert. Er liebt die einfachen Maisfladen und die harten Betten, ach Fußböden. So lange sein Handy fünf Balken anzeigt.

Der einzig wahre Reisende ist auf der Suche nach dem Fremden, nach dem, was er Authentizität nennt, doch ist das bloß das coolere Wort für Armut an weit entfernten Orten. Authentizität bedeutet: "Lieber Ureinwohner, bau dir bitte kein Haus aus Stein, deine Vorfahren haben doch auch in Tierhautzelten gewohnt." Blasse weiße Jungs aus dem Westen, der seine Natur für den wirtschaftlichen Aufschwung zerstört hat, verlangen nun vom Süden, dass er seine Natur bewahrt. Der Möbelhausmitarbeiter fliegt, weil er es anderswo schöner findet. Der Backpacker fliegt, weil er es zuhause scheiße findet. Er ist ständig auf der Flucht. Nur vor sich selbst kann er nicht fliehen. Reisen macht weltoffen, sagen er und seine Leute. Dabei ist Weltoffenheit eine innere Haltung, keine Frisur, die man sich alle sechs Monate auf Phuket nachschneiden lassen muss.

Die individuellsten Individualtouristen haben längst erkannt, dass der Trip auf eigene Faust Mainstream geworden ist. "Banana Pancake Trail" heißen Routen durch die Mekong-Länder, weil die Bewohner sich den Gewohnheiten der Touristen unterworfen haben, zum Beispiel beim Frühstück. Auch im "Lonely Planet", der Bibel der Rucksacktouristen, stehen mittlerweile Sätze wie "Das Milawa-Huhn, gefüllt mit Camembert aus der Region, eingewickelt in Speck, serviert mit Milawa-Senf, ist ein Gedicht". Machu Picchu ist der Eiffelturm der Backpacker.

Auf eigene Faust nach Nordkorea

Deshalb treiben die Individualterroristen die Individualität auf die Spitze. Sie kochen usbekische Hausmannskost mit echten Usbeken, arbeiten zwei Wochen ehrenamtlich in einer Hunde-Auffangstation in Thailand, schmieden Kerzenhalter in Kambodscha oder sorgen sich, ob Myanmar nicht touristisch schon viel zu erschlossen ist, während die meisten Leute noch nicht einmal wissen, wo dieses Myanmar liegt. "Ich würde lieber nicht in einem schnieken Ressort am Strand übernachten, das mit anderen Ressorts vollgepackt ist", schreibt einer im Forum von "Lonely Planet". Andere suchen verzweifelt nach einer Möglichkeit, auf eigene Faust nach Nordkorea zu reisen. Über Damaskus schreiben sie, es sei noch immer toll da, aber die Checkpoints und bewaffneten Soldaten lenkten etwas von den Bauwerken ab. Und kann ich mir in Somalia Höhlenmalereien ansehen, ohne erschossen zu werden?

Doch mit ihrer Sucht nach dem Unberührten und Unbekannten sorgen sie dafür, dass es bald keinen unberührten und unbekannten Flecken Erde mehr gibt. Sie erschließen die Gegenden für andere Touristen, denn sie sehen sich außerstande, die Klappe zu halten, und schwärmen auf ihren digitalen Pinnwänden vom — wie jedes Jahr — Urlaub ihres Lebens. Wenn sie doch einmal nicht von ihren Erlebnissen berichten würde! Wenn sie doch einmal rechtzeitig ihren Mund halten würden. Wenn sie doch einmal nicht erzählen würden, wo es besonders schön ist. Um das Unberührte zu sehen, nehmen sie seine Zerstörung in Kauf. Sie fliehen vor der Zivilisation, führen sie aber ständig mit sich. Am Ende des Tages ist das Land, das sie bereisen, genauso ein nur für sie erbauter Freizeitpark wie für den Touri auf Malle.

Wozu also in den Urlaub fahren? Ich habe die Wahl, mich zwischen andere verdunstende Körper an einen Pool zu quetschen, oder mir die Erleuchtung in nepalesischen Tempelanlagen einzureden. Ich schade Umwelt, Land, Bevölkerung. Urlaub ist wie die Currywurst in der Kantine bei größtem Hunger. Klingt nach einer guten Idee, aber nach dem Verzehr beschließt man: Das war das letzte Mal. Die wichtigsten Tage des Jahres sind eben nicht der Urlaub, sondern die anderen 350 Tage drumherum. Wer den Urlaub braucht, um glücklich zu sein, wird nie glücklich.

Die Heimat ist mir schon fremd genug

Also kann ich auch zuhause bleiben. Die schönsten Momente geschehen nicht an den schönsten Orten. Die passieren einfach so. Schon der Hamburger Musiker Bernd Begemann sang vor Jahren: "Bleib zuhause im Sommer". Es war eine Aufforderung an seine Liebste, sie möge in den Ferien nicht den Heimatort verlassen, sondern bei ihm bleiben. "Der Strand ist überall, wenn man sich wirklich liebt." Das Schöne ist viel näher, als wir denken. Damit meine ich nicht mal Nordsee oder Ostsee oder Bodensee. Noch näher. Ich habe so vieles in meiner Heimat bisher nicht gesehen, wozu um Gottes Willen sollte ich dann nach Myanmar? Das Fremde beginnt vor der eigenen Haustür.

Zum Beispiel 20 Autominuten entfernt. Dieses kleine Waldgebiet, es geht hoch und runter, dann laufen Schafe über die Heide, und dann fließt dort ein Bach. Einfach die A52 Richtung Venlo und dann.

(seda)
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