Städtereisen Die dunkle Seite Kopenhagens

Kopenhagen · Die dänische Hauptstadt hat mehr zu bieten als die kleine Meerjungfrau. Abseits des Glamours der Königsfamilie führen Obdachlose durch die skandinavische Metropole. Und erzählen von ihren Schicksalen.

Kopenhagen: historische Hafenstadt
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Kopenhagen: historische Hafenstadt

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Foto: Cees von Roeden / copenhagenmediacenter.com

"Chopper" sitzt auf einer schmalen Steinsäule. Der Blick ist auf den Boden gerichtet, die langen Haare fallen ihm ins Gesicht. Sein schwarzer Rucksack drückt die Schultern nach unten. Er wirkt müde, in Gedanken verloren. Doch als er die Gruppe von Touristen sieht, die auf ihn zusteuert, erhebt er sich ganz schnell. Sein breites Lächeln im braunen, wettergegerbten Gesicht entblößt eine Zahnlücke. "Willkommen in Kopenhagen", ruft er den Besuchern zu. Chopper, der eigentlich Csaba Setet heißt, ist einer von mindestens 7000 Obdachlosen in Kopenhagen. Er zeigt Interessierten das andere, das unbekannte Gesicht, die dunkle Seite der dänischen Hauptstadt.

Street Voices oder Poverty Walks nennt sich das Projekt, bei dem Menschen von der Straße durch Kopenhagen führen. Im Vordergrund stehen Obdachlose, die ihre persönliche Geschichte mit ganz speziellen Orten in der Stadt verweben. Abseits der Statue der kleinen Meerjungfrau und dem königlichen Schloss Amalienborg, hinein in die Armenküchen und zu den Schlafplätzen unter freiem Himmel. So sollen sie laut der Organisation Gadens Stemmer unabhängig von Sozialleistungen des Staates werden.

Durch ein schmiedeeisernes Tor führt Chopper in den Ørstedsparken. Benannt nach dem Naturforscher Hans Christian Ørsted, wurde diese 6,5 Hektar große Parkanlage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschaffen. Chopper läuft rückwärts auf dem Schotterweg, erzählt seiner Gruppe: "Der Park wurde auf den Resten der früheren Befestigungsanlagen von Kopenhagen angelegt." Es geht entlang eines großen Sees, der den Verlauf des alten Stadtgrabens nachzeichnet. Die Geschichte des Parks und die exakten Daten hat der gebürtige Ungar im Kopf. Wenn sein Englisch etwas stockt und die Touristen ihn fragend anblicken, versucht er sich umso gestenreicher verständlich zu machen. Meistens klappt es.

Die zahlreichen Denkmäler und Skulpturen im Park, von einer grünen Patina überzogen, lässt Chopper am Wegrand stehen. Stattdessen verschwindet er durch eine Hecke, winkt der Gruppe, ihm zu folgen. In einem Halbkreis, der hüfthoch von Steinen umfasst ist, bleibt er stehen. Auf dem Spielplatz im Hintergrund schaukeln zwei blonde Mädchen, ihre Mutter flechtet aus Blüten und Zweigen Haarkränze. "Hier schlafe ich." Fragende Blicke gehen durch die Runde. "Genau hier. Auf dem Boden", verdeutlicht Chopper und zeigt auf die Stelle vor sich. "Dieser Park ist einer der wenigen Orte, an dem die Polizei uns noch gewähren lässt." Doch am liebsten ist der 53-Jährige unterwegs. So bleibe er unsichtbar und halte sich warm.

Durch seine ständigen Touren kennt er jedes Gebäude der Stadt, hat immer die passende Geschichte parat. An einem alten Backsteingebäude im Stadtteil Frederiksberg zeigt er auf ein vergilbtes Fenster im dritten Stock. Hier hat Chopper mal gewohnt. Lange hat er es nicht ausgehalten. Die Wände haben ihn eingeengt, "eingeschlossen", sagt er. Es geht vorbei am Arbeitermuseum nahe der U-Bahn-Station Nørreport. "Das Gebäude war früher der Versammlungsort der Arbeiter in Kopenhagen - vergleichbar mit den deutschen Gewerkschaftshäusern. Heute steht es unter Denkmalschutz", erläutert Chopper. Unweit davon liegt der Botanische Garten. Vor der Mauer, hinter der sich das Gebäude der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität von Kopenhagen erhebt, bleibt er stehen. "Hier habe ich die glücklichste Zeit meiner Kindheit verbracht", sagt Chopper und deutet mit dem Finger auf die runde Kuppel. Nach Monaten auf der Straße durfte er dort, direkt unter dem Dach, bei den Orchideen, schlafen. Warm war es dort und die Mitarbeiter des Botanischen Gartens frühstückten sogar mit ihm. Die Marihuanapflanzen, an denen er sich bediente, hätten seinen Aufenthalt endgültig perfekt gemacht. "Zwei Jahre waren wir glücklich." Damals war er 13. "Ich bin ein Kind der Straße. Ich kenne die Straße. Wenn man ein Land oder eine Stadt richtig kennenlernen will, muss man nur dort hinschauen", sagt Chopper.

Die Mitglieder der Gruppe hängen an Choppers Lippen, wenn er seine Geschichte erzählt. Wenn er berichtet, dass er seit 22 Jahren trocken ist. Wenn er schildert, wie ihn seine Mutter und ihr Freund rausgeschmissen haben. Wenn er von der Gewalt und den Anfeindungen auf der Straße erzählt. Choppers Stimme wird brüchig, Tränen steigen aber nicht nur ihm in die Augen.

Viermal im Monat macht Chopper die rund zweieinhalbstündige Stadtführung. Seit 2010 haben etwa 15 000 Personen an den Touren mit ihm und vier weiteren Obdachlosen teilgenommen und ihren Geschichten gelauscht.

Es geht Richtung Innenstadt. Chopper weicht geschickt den klingelnden Fahrradfahrern aus. Mit einem kurzen Sprung ist er auf dem Bordstein. Die Gruppe braucht etwas länger, um die Straße zu überqueren. Der letzte Stopp ist erreicht: Strøget - mit 1,1 Kilometern Länge eine der größten Fußgängerzonen der Welt. Chopper steht neben einem Brunnen, Kinder toben umher, Pärchen essen ihr Eis, im Hintergrund leuchtet eine Reklametafel von H&M. Chopper verabschiedet sich. Müde sei er, müsse jetzt schlafen. Er winkt ein letztes Mal. "Passt auf euch auf", ruft er noch. Dann verschwindet er im Gewirr der Passanten.

(RP)
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