Schlucht von Verdon Unterwegs in Frankreichs Grand Canyon

Moustiers-Sainte-Marie · Steile Felswände, Mittelalterdörfer und Seen mit Karibik-Flair: Die Schlucht von Verdon in der Provence ist mehr als nur einer der größten Canyons Europas.

Schlucht von Verdon: Der Grand Canyon Frankreichs
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Der intensive Duft der blühenden Lavendelfelder hatte einen leichten Schwindel ausgelöst. Das Gefühl beim Blick in den 300 Meter tiefen Abgrund ist anders: Die steil nach unten fallenden Felswände erzeugen Höhenangst und Faszination, hier oben auf dem Aussichtspunkt Maugué auf der Route des Crêtes, der Kammstraße. Unten fließt der Verdon. "Die Schlucht ist unser Grand Canyon Frankreichs", erklärt der 34-jährige Reiseführer Cédric. Denn im Laufe der Jahrtausende hat sich der Verdon bis zu 700 Meter tief in das Bergmassiv hineingegraben.

Die Schlucht von Verdon liegt im Hinterland von Nizza, nur 50 Kilometer Luftlinie von der Stadt am Mittelmeer entfernt. Sie gehört zu den größten Schluchten Europas - und zu den schönsten. Der Verdon, der in den französischen Seealpen auf rund 2500 Metern entspringt, mündet mehr als 160 Kilometer weiter in die Durance. Auf seinem Weg zwischen Castellane und dem Lac de Sainte-Croix hat der wilde Alpenfluss auf rund 21 Kilometern nicht nur eine der gewaltigsten Schluchten Europas geschaffen, sondern auch eine Landschaft, die 1997 zum Nationalpark gekrönt wurde.

Die Schluchtenabhänge können in zwei Richtungen umrundet werden: Von der nördlichen Lavendelstraße aus kommend über Moustiers-Sainte-Marie oder über Castellane und der südlichen Corniche Sublime. "Welche Route die spektakulärste ist, ist schwer zu sagen", meint Cédric. Sattsehen könne man sich an der Schönheit nie.

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Die Wahl fällt auf die Option über die Felder in tiefem Violettblau auf dem Plateau de Valensole, dem Zentrum des Lavendelanbaus. Immer auf der Départementstraße D925 entlang und an dem überaus hübschen Ort Moustiers-Sainte-Marine vorbei. Bei Palud-sur-Verdon, einem kleinen Dorf in unmittelbarer Nähe der Schlucht, geht es an einer Abzweigung auf die Route des Crêtes (D25). Die Serpentinen-Fahrt von den duftintensiven Lippenblütlern bis zum Aussichtspunkt Maugué belohnt mit großartigen Panoramen.

Der Blick in die Schlucht vom Belvédère Maugué - das Wort bedeutet so viel wie schlechte Furt - ist schwindelerregend. Schwer vorstellbar, dass so tief unten ein Wanderweg verläuft. Doch die Schönheit der Schlucht zog zu Beginn des 20. Jahrhunderts einige Abenteurer an, darunter den französischen Hydrogeologen Édouard-Alfred Martel, der erstmals im Sommer 1905 in die Tiefen hinunterstieg. Die mehrtägige Expedition war schwierig und gefährlich, erzählt Cédric. Treibholz hinderte die Männer am Vorankommen und ein Teil der Ruderboote sei an den Geröllfelsen zerbrochen oder aufgelaufen.

Martel gilt als Vater der modernen Höhlenforschung. Seine Expedition durch die wilde Schlucht hat er in dem 1928 veröffentlichten Band "La France ignorée, Sud-est de la France" beschrieben. "Wir sind am Ende unserer Kräfte und staunen nur noch. Ein Höhlendach am rechten Ufer, eine wahre Grotte des Styx, scheint den Verdon zu verschlucken. Hier ist das Weiterkommen unmöglich." Der Styx ist in der griechischen Mythologie der Fluss, der zur Hölle führt. Verdon, der Höllenfluss.

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Foto: AFP

Der rund 14 Kilometer lange Wanderweg Sentier Martel ist mit seinen Hangelpassagen und Steilstufen auch heute noch voller Tücken. Einmal tief unten in der Schlucht, ist ein Zwischenausstieg nicht mehr möglich. Gute Schuhe, ausreichend Verpflegung und eine Taschenlampe seien nötig, sagt Cédric. Die Wanderung dauert sechs Stunden. Der Pfad garantiert Höhlen- und Höhenfeeling. Er geht unermüdlich bergauf und bergab, führt durch bis zu 700 Meter lange und dunkle Felstunnel und über Steiltreppen mit 252 Stufen.

Im Jahr 2005 wurde der Wanderweg auf Sentier Blanc-Martel umgetauft - als Hommage an Isidore Blanc, der Martel bei seiner Verdon-Erkundung begleitet hat. Blanc war Grundschullehrer und stammte aus dem Dorf Rougon, das man erblickt, wenn man auf der D952 von Castellane herkommt. Es ragt auf einem Felssporn in die Höhe.

Plötzlich zeigt Cédric in die Luft. Ein Greifvogel mit gewaltiger Flügelspanne schwebt über die Schlucht. "Das ist ein Gänsegeier", klärt er uns auf. "Eine Spezies, die ausgestorben war und erst 1999 wieder eingeführt wurde." Gänsegeier sind Aasfresser. Ihre Körperlänge kann bis zu einem Meter lang sein, die Spannweite ihrer Flügel mehr als 2,60 Meter betragen.

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Foto: www.britainonview.com

Der Höllenfluss Verdon ist heute gezähmt. Fünf Staudämme waren nötig, um die Launen des Flusses zu bezwingen. Neben dem Lac de Castillon am Oberlauf des Verdon gehört der Lac de Sainte-Croix - der zweitgrößte Stausee Frankreichs - zu den attraktivsten der künstlichen Wasserspeicher. Er liegt am Ausgang der Schlucht. Den schönsten Blick auf den See, der die provenzalische Sonne wie kleine Diamanten reflektiert, hat man von der Brücke Sainte-Croix aus. Sie führt auf 45 Meter hohen Pfeilern über den Verdon, aus dem sich der See speist.

Der Lac de Sainte-Croix bietet Kinokulisse. Türkisblaues Wasser, wie man es von der Südsee oder der Karibik kennt, und eine unvergleichliche Lage zwischen den Hügeln des Haut-Var und den scheinbar unendlichen Lavendelfeldern von Valensole. Die Lust, kopfüber in das türkisfarbene Wasser zu springen, ist hier ein ständiger Begleiter. Doch die idealen Badetemperaturen werden erst in der Hochsaison erreicht. Der Verdon ist ein kalter Alpenfluss, der die grün leuchtende Farbe seinem hohen Fluorgehalt verdankt.

Der schönste See der Provence: Für diesen Titel, mit dem sich der Lac de Sainte-Croix schmückt, mussten große Opfer gebracht werden. Mehr als 2000 Hektar fruchtbares Land wurden überschwemmt und ein ganzes Dorf zerstört. "Eigentlich hätte der Lac de Sainte-Croix noch größer werden sollen, was die Zerstörung von zwei weiteren Dörfern bedeutet hätte. Doch der Widerstand der Bewohner war zu groß", erzählt Cédric.

Les Salles-sur-Verdon wurde rund 400 Meter weiter an einer höheren Stelle wieder aufgebaut - im Stil von früher. Die Glocken, die in der jetzigen Kirche zum Angelusgebet läuten, stammen aus dem alten Gotteshaus. Auch ein alter Brunnen konnte gerettet werden. Statt von Landwirtschaft leben die etwas mehr als 240 Einwohner vom Tourismus der Freizeitkapitäne und Sonnenanbeter. Denn der Ort gehört neben Sainte-Croix du Verdon und Bauduen zu den wenigen Dörfern, die direkt am See und seinen steinigen Naturstränden liegen.

Rund vier Kilometer oberhalb des Sees liegt Moustiers-Sainte-Marie. Das Dorf zählt zu den Bilderbuchorten der Provence: schmale Gassen, Steinhäuser, ein Gebirgsbach, der das Dorf zweiteilt und romantische Plätze. Mit seiner größtenteils romanischen Kirche klebt das Mittelalterdorf, das im fünften Jahrhundert aus einem Kloster entstanden ist, wie ein Adlerhorst am Fuß eines gigantischen Felsens. Oberhalb des Ortes ragt sein Wahrzeichen in die Höhe, zu dem ein steiler Kreuzweg führt: die Wallfahrtskapelle Notre-Dame-de-Beauvoir.

Den riesigen Stern, der wenige Meter höher an einer Eisenkette zwischen zwei Felsspitzen hängt, soll es schon vor Jahrhunderten gegeben haben. Zahlreiche Legenden ranken sich um den vergoldeten und rund 150 Kilo schweren Himmelskörper. Manche handeln von Romanzen oder den Heiligen Drei Königen, doch vor allem bekannt ist die um den Kreuzritter Blacas. Als Dank dafür, dass er aus der Gefangenschaft der Sarazenen freigekommen war, soll er den Stern als Weihegabe an die Jungfrau Marie entrichtet haben.

Rote Ziegeldächer, Zypressen, Pinien und knorrige Olivenbäume: Der Blick von der Steinkapelle aus dem zwölften Jahrhundert auf das Dorf und die urprovenzalische Landschaft ist fantastisch. Für jene, die von Moustiers-Sainte-Marie aus in Richtung Schlucht-Route starten, ist die Aussicht ein vielversprechender Vorgeschmack. Für alle anderen, deren Canyon-Schwindel in dem rund 700-Seelen-Dorf zu Ende geht, ist das Panorama der stimmige Ausklang eines berauschenden Ausflugs durch die Tiefen der Provence.

(dpa)
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