Reisen Eisiges Estland

Wenn Väterchen Frost die Küste Estlands fest im Griff hat, ist in der Provinz Lääne genau die richtige Zeit für Winterschwimmer, Tretschlittensportler und mutige Autofahrer.

 In Estland ist die längste Eisstraße 27 lang. In besonders kalten Wintern ist sie manchmal monatelang befahrbar.

In Estland ist die längste Eisstraße 27 lang. In besonders kalten Wintern ist sie manchmal monatelang befahrbar.

Foto: Monika Hippe

An diesem frostigen Wintermorgen fährt Konstantin mit seinem Auto aufs Meer - ohne Fähre. Die Reifen rollen knirschend übers Eis, das in der Sonne funkelt wie Kristall. Mitten auf der zugefrorenen Meerenge bremst er, steigt aus und bohrt ein Loch. "Das Eis muss 26 Zentimeter dick sein, um die Autos tragen zu können", sagt der blonde Este, der im Sommer asphaltierte Straßen baut und im Winter Eisstraßen. Jeden Tag muss er neu entscheiden, ob die zwölf Kilometer lange Eisstraße für den Autoverkehr von Rohuküla zur Insel Vormsi freigegeben werden kann.

In Estland gibt es sieben mögliche Eisstraßen mit knapp vier bis 27 Kilometern Länge. In besonders kalten Wintern sind alle Strecken wochen- oder monatelang befahrbar. In anderen Jahren werden nur einige für wenige Tage freigegeben. "Wir machen uns trotzdem die Mühe mit Aufbau und Abbau, damit wir nicht verlernen, wie es geht", sagt Konstantin. Am häufigsten friert die Meerenge zwischen Haapsalu und der Halbinsel Noarootsi zu. Die Einheimischen freuen sich dann über eine zehnmal kürzere Wegstrecke zum Festland.

Aber die Eisstraße lockt auch viele Spaßfahrer aus ganz Estland an. Am Wochenende bilden sich kleine Staus vor dem Kontrollhäuschen an der Uferpromenade. Auf dem Meer gilt die Straßenverkehrsordnung mit einigen Abweichungen, die jedem Fahrer erklärt werden: Nicht stoppen! 250 Meter Abstand halten! Und bitte nicht anschnallen! Falls man einbricht, würde man nicht schnell genug herauskommen. Doch das sei auf der offiziellen Strecke noch nie passiert.

Auch Kertu fährt im Winter gern auf der Eisstraße, aber noch lieber schwimmt die schlanke Estin im Eiswasser. Einmal in der Woche trifft sie sich mit zehn bis 20 Frauen am Jachthafen. Dort klettern sie in Badeanzug und Pudelmütze über eine Leiter ins Null-Grad kalte Wasser. "Ich habe zehn Jahre lang davon geträumt, bis ich den Mut hatte, es auszuprobieren und mich ein Facebook-Freund das erste Mal mitgenommen hat", erzählt Kertu. Inzwischen hält sie es von allen am längsten aus: 1,5 Minuten. "Wenn ich Kopfschmerzen habe, wirkt das Eisbad Wunder, danach bin ich wieder total fit", schwärmt sie. Gern nimmt sie auch Gäste mit zum Schwimmen.

Die Urlauber kommen im Winter aber auch, um wärmende Schlammpackungen in einem der Spa-Hotels zu genießen. Haapsalu hat eine lange Tradition in solchen Anwendungen, denn es war der Este Dr. Carl Abraham Hunnius, der Anfang des 19. Jahrhunderts als Erster die heilende Wirkung von Meeresschlamm wissenschaftlich untersuchte. Nahe der Eisstraße ist ihm ein Denkmal gewidmet. Von dort spaziert man am Kurhaus mit kunstvoll geschnitzten Dachgiebeln vorbei. Die erste Kuranstalt entstand im Jahr 1825. Damals entwickelte sich Haapsalu zu einem mondänen Ferienort für russische Zarenfamilien.

Estland: Sehenswürdigkeiten in Tartu
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Sehenswürdigkeiten in Tartu

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Foto: dpa, ah

In der Mitte der Altstadt thront eine imposante Burgruine aus dem 13. Jahrhundert. Einer Legende nach soll in bestimmten Vollmondnächten das Bild einer weißen Frau am Fenster zu sehen sein. Sie soll sich als Chorknabe verkleidet haben, um ihrem Geliebten - einem Bischof - nahe zu sein. Als die Verkleidung aufflog, wurde sie zur Strafe eingemauert. Jeden Sommer wird diese Geschichte als Theaterstück im Burghof aufgeführt.

Was die Kultur angeht wie auch die Liebe zur Natur, die Modernität und den digitalen Fortschritt, hat Estland viel mehr von Finnland als von seinem Nachbarn Russland. Hippe Wohnzimmercafés, hervorragende Restaurants mit regionalen Spezialitäten und in jedem Winkel eine gute Internetverbindung. Dabei gelingt den Einheimischen der Spagat zwischen Tradition und Moderne. Wie beim Tretschlitten: Früher diente er als praktisches Fortbewegungsmittel. Man brachte damit im Winter die Kinder zur Schule oder transportierte die Einkäufe nach Hause. Heute gleiten Urlauber damit übers Eis. Auf der Tour geht es vorbei an Schilfinseln, die im Sonnenuntergang satt orange leuchten - hin zu einer der 1520 Inseln vor der Küste Estlands.

Zurück am Festland verabschiedet sich der Tag langsam, malt ein zartrosa-bläuliches Licht in die Landschaft und stempelt schon mal den Mond in den Himmel. Vom Aussichtsturm an der Uferpromenade hat man einen guten Blick auf die Eisstraße. Dort rollt nun ein Wagen mit Scheinwerferlicht. Womöglich ist es der letzte in diesem Jahr. Nachts ist die Nutzung der Straße verboten. Und höchstens Petrus weiß, ob der eisige Weg übers Meer am nächsten Tag wieder geöffnet werden kann.

Die Redaktion wurde von Estonian Tourist Board zu der Reise eingeladen.

(RP)
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