Städtereisen Wien Die dunkle Seite einer prunkvollen Stadt

Wien · Der Tod gehört zum Leben, vor allem aber gehört er zu Wien. Die österreichische Hauptstadt hat ein besonderes Verhältnis zum Sterben. Gruft, Leichenschmaus, Geisterbahn - eine Reise ins Morbide.

Gruseliger Stadtrundgang durch Wien
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Gruseliger Stadtrundgang durch Wien

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Foto: dpa-tmn, Daniela David

Als Erstes sieht man Gräber. Wer nach Wien reist und vom Flughafen ins Zentrum fährt, passiert einen der größten Friedhöfe Europas. Drei Millionen Tote liegen auf dem Wiener Zentralfriedhof im südöstlichen Stadtteil Simmering - er ist so groß, dass Touristen dort Fiaker-Rundfahrten machen können. 80 Kilometer messen die Wege, es gibt Bushaltestellen. Auf dem Friedhof, dem der Sänger Wolfgang Ambros ein Lied widmete, liegen Beethoven, Schubert und Strauß (Sohn). Etwa 1000 Promi-Gräber mit Musikern, Schriftstellern oder Politikern sollen es sein.

Am Grab von Falco, der Johann Hans Hölzel hieß und 1998 in der Dominikanischen Republik im Koksrausch mit einem Bus zusammenprallte, machen zwei Fans schon an einem kalten Montagvormittag Fotos. Das Grab hat die Form einer durchgebrochenen CD und zeigt Falco in einem schwarzen Umhang, so dass man unweigerlich an eine Fledermaus denken muss. "Muss ich denn sterben, um zu leben?", sang der Künstler, und man möchte ihm antworten: Ja, in Wien vielleicht schon.

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Foto: dpa, pla

Die Bewohner der österreichischen Hauptstadt haben ein spezielles Verhältnis zum Tod. Eine Beerdigung war in früheren Jahrhunderten ein Großereignis - pompös musste es werden, am besten sollte die ganze Stadt zusehen. Manche Menschen sparten ihr Leben lang für ihr Begräbnis. "In Wien musst' erst sterben, damit sie dich hochleben lassen. Aber dann lebst' lang", sagte mal der österreichische Kabarettist Helmut Qualtinger.

Schieben andere den Tod weg, schauen die Wiener hin: Seit 1967 gibt es ein Bestattungsmuseum, es liegt heute auf dem Zentralfriedhof. In einer früheren Aufbahrungshalle sind Särge, Urnen oder Totengewänder zu sehen. Besucher können die beliebtesten Beerdigungslieder der Wiener anhören. Platz 1: Time to Say Goodbye, Platz 2: Ave Maria (von Bach), Platz 3: Ave Maria (von Schubert).

Im Audioguide erzählt ein Totengräber, wie sich ein Feldhamster in seinem Handschuh festbiss, als er ein Babygrab ausheben wollte und dass er lieber "Beamter" sage, wenn er gefragt werde, wo er arbeite. Das Museum verkauft Nudeln in Totenkopfform und einen Miniaturfriedhof zum Nachbasteln.

Gegenüber vom Friedhof steht ein braunes Haus, das gut als Gruselvilla in einem schlechten Horrorfilm durchginge. Im Vorgarten thront eine große Jesus-Figur, die Uhr über dem Eingang zeigt fünf vor zwölf, aber es ist erst elf Uhr. Einladend sieht hier nichts aus, doch ein Schild erklärt, man sei willkommen im "Kaffeehaus Concordia".

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Foto: Shutterstock.com/ Alex Poison

Der Gastraum, der mit seinem dunklen Holzboden und einem alten Ofen aussieht, als habe sich seit 100 Jahren nichts verändert, ist leer. Die Kellnerin sagt, fast alle Tische seien reserviert. Kurz überlegt man, ob hier Geister sitzen, dann versteht man. "Leichenschmaus?" - "Ja, Leichenschmaus", sagt die Frau. Die Wiener haben den Tod nicht an den Stadtrand verbannt - auch das Zentrum ist ein einziger Friedhof. Die Innenstadt ist von Grüften und Katakomben durchzogen, viele sind zugänglich.

Die Michaelergruft etwa liegt unterhalb der Michaelerkirche gegenüber der Hofburg, dem Sitz des Bundespräsidenten. In dem engen, dunklen Kellergewölbe, das im 16. Jahrhundert zur Gruft wurde, ist es kalt, manche der Särge sind geöffnet. Der Besucher schaut auf mumifizierte Leichen, deren Perücken teils noch zu sehen sind. An einer Wand sind Knochen wie Holz aufgesetzt, aber man kann es kaum glauben und fragt nach. "Ja, des sind olls Oberschenkelknochen", erklärt der Mann, der durch die Gruft führt, ungerührt. Viele der Särge seien im Lauf der Jahrhunderte geöffnet oder zerstört worden, irgendwann habe halt mal einer aufgeräumt und die Knochen gestapelt.

"Ist der Mozart auch hier unten?", will ein kleiner Junge wissen. "Na, aber sein Schwiegervater", sagt der Führer. Wo die Reste des Mannes sind, weiß keiner. Totenbücher geben zwar Aufschluss, wer in der Gruft liegt, die Särge selbst sind aber nicht mit Namen versehen.

Keinen Zweifel gibt es, wer in der Kapuzinergruft liegt: Wiens wohl berühmteste Gruft liegt unterhalb eines schlichten Klosters und beherbergt die Gebeine der Habsburger, die vom zwölften Jahrhundert bis zum Ende der Monarchie 1918 regierten. 149 von ihnen finden sich in aufwendig verzierten Särgen - jedenfalls die Körper. Herz und Eingeweide liegen an anderen Grabstätten. Habsburger ließ man dreigeteilt bestatten.

Tanja Dolnak, die mit ihrem Pagenschnitt und Seidenschal auch Luxusmode in der Innenstadt verkaufen könnte, konzentriert sich beim Rundgang durch die ausgeleuchtete Gruft aufs Wesentliche. In breitem Wienerisch, das immer etwas neckisch klingt, schildert sie, wer von den Habsburgern gut aussah (der Sohn von Leopold I.) und wer nicht (Leopold I.), welche Ehen glücklich waren (Maria Theresia & Franz I. die ganze Zeit, Franz Joseph II. und Elisabeth zumindest am Anfang) oder wie viel Maria Theresia, die als einzige Frau regierte und 16 Kinder hatte, am Ende wog (120 Kilogramm).

Die unterhaltsame Tour lässt auch nicht die Ruhestätte von Österreichs berühmtester Kaiserin Sisi aus. Frische Blumen liegen vor dem Sarg, Selfies macht niemand. Im Gästebuch der Gruft wird immer wieder für die "tollen Särge" gedankt, ein melancholisch gestimmter Besucher gedenkt der Monarchie.

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Foto: Roberta Patat / Shutterstock.com

Drastische Bilder finden sich im Kriminalmuseum, das abseits der Touristenströme in einem unscheinbaren Wohnhaus in der ruhigen Leopoldstadt untergebracht ist. Hier zeichnet die Stadt nicht nur die Geschichte ihres Polizeiwesens nach und stellt Folterwerkzeuge und Tatwaffen aus, sondern illustriert auch die schauerlichsten Morde, teils mit Original-Leichenfotos. Das muss man aushalten können. Oder morbid veranlagt sein. "Der Tod muss ein Wiener sein", sang schon Kabarettist Georg Kreisler, und je länger man sich in dieser herrschaftlichen Stadt aufhält, die immer ein wenig aus der Zeit gefallen scheint, desto lauter will man rufen: Ja, was denn sonst?

Selbst in den berühmten Kaffeehäusern, von denen man nie genau weiß, ob man sie schwermütig oder dekadent finden soll, sitzt der Tod mit am Tisch. Schwarzgekleidete Kellner wirken in ihrer Ernsthaftigkeit nicht selten wie Sargträger. Die Gäste bestellen vor elf Uhr morgens Torte, zu denen üppige Portionen Schlagsahne gereicht werden. Wer sich so ungezwungen mit dem Tod befasst wie die Wiener, genießt vielleicht auch das Leben mehr.

Der Prater, Wiens großer Vergnügungspark, jedenfalls hat das ganze Jahr offen. Aber auch hier, oberhalb der Donau, ist es eher bedrückend. An einem kühlen Herbsttag ist das große Areal fast leer, die kahlen Bäume rund um die Fahrgeschäfte, von denen die Hälfte Geisterbahnen sind, verleihen ihnen etwas Tristes. "Rechts a Gspenst, links a Gspenst, bis Di nimmer aus'a'kennst!", scheppert es aus den Lautsprechern, und es könnte jetzt sehr gut auch 1970 sein. "Die Geisterbahnen waren das Größte für uns", erzählt Karl Kalisch, ein 86 Jahre alter Österreicher, der seit Jahrzehnten mit seiner Frau Gertraud in Wien lebt. Warum die Wiener so morbid zu sein scheinen, kann das Paar auch nicht recht erklären. Es sei halt so.

Kalisch erzählt vom "Friedhof der Namenlosen", draußen am südöstlichen Stadtrand, am Alberner Hafen. Es ist die letzte Ruhestätte für Selbstmörder, die keiner identifiziert oder Menschen ohne Angehörige. "Das gibt es doch in anderen Städten nicht", ist er sicher. Bei der Bepflanzung von Gräbern herrsche in Österreich auf dem Land regelrechter Ehrgeiz, ergänzt seine Frau Gertraud Kalisch, die 71 ist, aber viel jünger aussieht. Zum Abschied schenkt sie der Besucherin ein dickes Buch: Es ist ein Friedhofsführer für Wien.

(dpa)
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