Im schönen Wendland Zwischen Atomprotest und Wolfsrückkehr

Gorleben/Göhrde · Urlaub machen, wo die Castoren rollen? Das ist kein Widerspruch. Das Wendland, ehemaliges DDR-Grenzgebiet und die am dünnsten besiedelte Region Deutschlands, lockt mit mehr als langweiligem Landleben.

Landleben a la Wendland
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Den Eseln ist es egal, wie geschichtsträchtig die Stelle ist, an der Besitzer Gerhard Has sie gerade festgebunden hat. Wer muss, der muss. Und so fließt Esel-Pipi über Bohrloch 1004, während der 72-Jährige erzählt. Vom Atomprotest Anfang der 1980er Jahre. Vom Hüttendorf, das die Gegner über dem Bohrloch errichten. Von der "Freien Republik Wendland" und ihrer Räumung 33 Tage später. Gebannt tauchen die Wanderer in die Geschichte ein. Genug Gesprächsstoff für den Rückweg zur Weide in Trebel - bei dem Wallach Bruno und die Eseldamen Cindy, Jessy und Lady wieder das Tempo bestimmen.

Seit 40 Jahren ist der östlichste Zipfel Niedersachsens untrennbar mit dem Anti-Atom-Protest verbunden. Am 22. Februar 1977 benannte Ministerpräsident Ernst Albrecht Gorleben als mögliches Endlager. Weite und Natur im Überfluss kennzeichnen die Gegend. Aber auch der Protest hat den Landstrich geprägt. Mit den Jahren ist das Wendland bunter und liberaler geworden. Eine Tatsache, die immer mehr Touristen anlockt.

Märchenhafte Wanderungen durchs Wendland
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Foto: dpa, pla

Die Zeit zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten darf man getrost als Hochsaison bezeichnen. Dann laden Künstler und Kulturschaffende zur "Kulturellen Landpartie", für Eingeweihte kurz KLP. Daumendick ist der kleine Katalog, der das Programm auflistet: alles in allem etwa 1000 Veranstaltungen an mehr als 100 Orten. Rund 60 000 Menschen kommen jedes Jahr. Wer es richtig machen will, ist mit dem Fahrrad unterwegs. Bei strahlendem Sonnenschein geht es an Fachwerkhäusern, gut erhaltenen Backsteinbauten und blühenden Bauerngärten vorbei. Freundlich grüßen andere Radfahrer.

Stopp bei Eva Kohlrusch in Künsche. Ihr Barockgarten ist ein grünes Paradies, seit 1993 erwachsen aus einem leeren Feld zwischen Erlen- und Eichen-Wallhecken. Ursprünglich nur für zwei Personen gedacht, steht er mittlerweile jedermann offen. An diesem sonnigen Samstag streifen zahlreiche Interessierte durch den Garten. Von einem erhöhten Ausguck lässt sich die Anlage am besten überblicken. Heckenräume, wie die Renaissance sie kannte, Buchs-Parterres, Rosenbögen, weißer Flieder, überbordende Fülle in den Blütenfarben Blau, Pink, Weiß. Wer sich satt gesehen hat, findet ein lauschiges Plätzchen auf der schattigen Terrasse und genießt eine Tasse Kaffee zum frischen Rhabarberstreuselkuchen.

Später geht es mit dem Drahtesel nach Kussebode bei Clenze. Vorbei an Weizenfeldern, die sich sanft im Licht der Abendsonne wiegen. Ziel ist die Brauerei Wendlandbräu. Aus Pferdestall und Backhaus des kleinen Dorfes ist eine 15-Hektoliter-Brauerei geworden - mit Sudhaus, Lagerkeller und Fassabfüllung. Ein frisch gezapftes Pils in der Hand genießen die Besucher Live-Musik.

Langweiliges Landleben? Das trifft auf das Wendland nicht zu. Seinen speziellen Charme versprüht die Region das ganze Jahr über. "Ich vermisse hier nichts", betont Kathrin Milner, die aus Hamburg auf einen Resthof zog. Vorher kannte sie das Wendland nur aus den Nachrichten: Gorleben und die Castor-Transporte. Vor der Wende schaffte es auch das Grenzstädtchen Schnackenburg öfter mal in die Zeitungen. Die zweitkleinste Stadt Deutschlands war einst der letzte Ort des Westens, auf drei Seiten eingekreist von der DDR. Hier badeten Westler nackt in der Elbe, um die ostdeutschen Grenzbeamten zu ärgern.

Oderbruch - Wandern in Brandenburg
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Foto: dpa, pla

Heute: viel Wasser, viel Weite, viel Nichts. Wer im September hier durchfährt, dem dringen vielleicht aus der Kirche klassische Töne ins Ohr. Dann ist Zeit für die Schubertiaden, ein weit über die Grenzen des Wendlands bekanntes Musikfestival. Der Pianist und künstlerische Leiter Prof. Arkadi Zenzipér lädt seit 25 Jahren Musiker aus aller Welt zu sich an die Elbe ein.

Weiter geht es entlang des Grünen Bandes, dem ehemaligen Grenzstreifen, bis nach Stresow. Eine Gedenkstätte erinnert an das Dorf, das nach dem Bau der Mauer dem Erdboden gleichgemacht wurde. Im Sommer kommen heute die Ausflügler zum Schwimmen im See.

Während früher die Atomkraftgegner kamen, sieht sich das Wendland heute mit einem Einmarsch ganz anderer Art konfrontiert: Der Wolf ist zurück. Als Deko-Exemplar im Garten des "Biohotels Kenners Landlust" in Dübbekold. Und in der Göhrde, dem großen Forst im Norden des Wendlands, ehemaliger Schauplatz kaiserlicher Jagden. Rote Jacke, Schlapphut, die zottelige Hündin Alva an seiner Seite: So begrüßt Hotelinhaber Kenny Kenner die Wanderer. Regelmäßig kontrolliert der ehrenamtliche Wolfsberater den Wald auf Spuren und Hinweise. Dabei nimmt er gern interessierte Gäste mit.

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Foto: Shiutterstock.com/Andreas Sell

Wie im Flug vergeht der dreistündige Spaziergang - und ohne ein echtes Tier zu Gesicht zu bekommen. Schließlich sind Wölfe nachtaktiv. In den Überresten eines alten Schafsstalls wird die Anwesenheit der Wölfe greifbar. Mit den dicken Feldsteine hielten die Schäfer früher die Wildtiere davon ab, sich zu ihrer Beute zu graben. Heute erklären Wolfsberater wie Kenny Kenner Nutztierhaltern, wie sie ihr Vieh am besten schützen können. Denn nicht nur die Touristen, auch die Wölfe haben das Wendland wieder für sich entdeckt.

(dpa)
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