Frankreich Korsikas Ostergeheimnis

Bonifacio · Ende März blickt ganz Korsika auf das mittelalterliche Städtchen Sartène. Seine mystische Karfreitagsprozession mit einem komplett verhüllten Büßer ist der österliche Insel-Höhepunkt und gibt jedes Jahr Rätsel zu dessen Identität auf.

Korsika - Französisches Urlaubsparadies
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Foto: shutterstock/ Stephane Bidouze

Barfuß und ganz in rot gekleidet schreitet der Mann über das kalte Kopfsteinpflaster der Rue Joseph Tafanelli. Seinen Körper verhüllt eine Kutte, die Hände stecken in Wollhandschuhen. Kopf und Gesicht sind unter einer Stoffmaske verborgen. Mit seinem rechten Arm umklammert er das 34 Kilogramm schwere Eichenholzkreuz auf seinen Schultern, mit der linken Hand die Gesichtsmaske, zieht Sehschlitze und Nasenlöcher zurecht.

Mit jedem Schritt schleift der Catenacciu, der Kettenträger, wie die Einheimischen den Büßer nennen, eine Eisenkette an seinem Fußgelenk über den Boden, vorbei an den Spalier stehenden Pilgern. Dann bricht der Catenacciu zusammen. Ein Raunen geht durch die Menge, ein Mädchen fängt an zu weinen. Im Laternenlicht der Nacht hallt der monotone Bußgesang der Gläubigen durch die düstere Gasse.

Seit dem 16. Jahrhundert ist der rote Büßer die Attraktion der Karfreitagsprozession, der ältesten Tradition in dem korsischen Städtchen Sartène. "Wer sich barfuß bei fünf Grad Celsius mit bleiernem Gewicht durch unsere Gassen quält, mit einer Maske auf dem Kopf, unter der man nichts sieht, kaum atmen kann und schwitzt, der will Vergebung", erklärt Bürgermeister Paul Quilichini.

Das Bergstädtchen mit 3500 Einwohnern im Südwesten der Insel Korsika schmiegt sich wie eine überdimensionale Trutzburg in die grünen Abhänge des Monte Rosso. Im Mittelalter lebten hier reiche Feudalherren. Sie bauten mehrstöckige Granithäuser kreuz und quer in die verwinkelte Altstadt. Treppen und schattige Gassen führen seitdem bergauf, bergab durch den bescheidenen Ort. Wer hier heute lebt, hat an den Ostertagen aber keinen Blick für die landschaftliche Schönheit. Fensterläden bleiben dann tagsüber verschlossen, auf Balkonen und in den Hauseingängen flackern Grabkerzen.

Noch im 19. Jahrhundert war Sartène die Hochburg der Vendetta, der Blutrache; die Catenacciu eine Möglichkeit der Buße. Zahlreiche Clans waren miteinander verfeindet, Familien des reichen Altstadtviertels Santa Anna bekämpften Familien des ärmeren Borgo. Selbstjustiz stand an der Tagesordnung. Noch heute ist der offizielle Bußgang an Karfreitag, der nur hier exakt den Kreuzweg Jesus nachstellt, heiß begehrt, die Teilnahme ein Traum vieler Sartenais. Sogar aus Australien und Neuseeland gab es schon Interessenten. Ob Totschlag, Diebstahl, Vergewaltigung oder doch nur ein besonders frommer Wunsch - die Spekulationen um das Motiv des Büßers heizen die Stimmung an.

Es sei mal einer dabei gewesen, der wollte mit dem Bußgang sein behindertes Kind heilen, behaupten die Einheimischen. Monsieur Quilichini weiß es besser: "Vor Jahren hatten wir einen Büßer, der war erst 25 und hatte schon zwei Selbstmordversuche hinter sich. Nach dem Bußgang war das vorbei."

Wie auch heute noch blieb die Identität des Mannes ein Geheimnis. "Wer der Catenacciu ist, weiß nur der Priester unseres Franziskanerklosters Saint Come et Damien. Und der schweigt wie ein Grab. Er wählt den Büßer aus, der derzeit rund 20 Jahre auf seine Einladung wartet", ergänzt der Bürgermeister. Für den gläubigen Sartenais, der hier aufwuchs und neben seinem Amt eine Baufirma und eine Weinproduktion leitet, ist das selbstverständlich.

Wenn sich dann am Karfreitag um 21.30 Uhr die Tore der Kirche Santa Maria Assuanta öffnen, der Catenacciu, gestützt vom Priester und dem korsischen Bischoff, auf den Place Porta tritt und seinen über zwei Stunden andauernden Rundparcours durch das Gassengewirr startet, wenn er auf dem Wege dreimal fällt, dann fühlt sich jeder Besucher zurückversetzt in längst vergangene Zeiten. Dabei helfen der weiße Büßer, der den Catenacciu beim Tragen des Kreuzes unterstützt, so wie der Feldarbeiter Simon von Cyrene damals Jesus half, und acht schwarz Gekleidete, die eine hölzerne Jesusfigur auf einem Leichentuch schultern. Zudem rund 5000 Neugierige, die sich am Wegesrand aufreihen, von den Balkonen zuschauen oder stillschweigend aus den Fenstern blicken, ergriffen von der unheimlichen Stimmung.

Mit der Vermarktung des spektakulären Osterbrauchs tut man sich allerdings schwer. "Jeder, der möchte, ist natürlich herzlich eingeladen, zur Catenacciu zu kommen. Aber es geht hier nicht um eine Show, sondern um Glaube und Religion. Und das soll auch so bleiben", sagt Bürgermeister Quilichini bestimmt.

(RP)
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