Neue Studie Vorlesen - je früher, desto besser

Düsseldorf · Eine neue Studie belegt, wie wichtig das Vorlesen schon für die Entwicklung eines Babys ist. Und obwohl viele Eltern die Lesefähigkeit für die Bildung ihres Nachwuchses hoch bewerten, wird noch zu selten zum Buch gegriffen. Was Eltern wissen sollten.

 Ein Vater liest seinen Kindern etwas vor (Symbolbild).

Ein Vater liest seinen Kindern etwas vor (Symbolbild).

Foto: dpa, pp_ae_son pil

Die zwei guten Nachrichten ganz schnell vorweg: Fast allen Eltern in Deutschland ist die Bildung ihrer Kinder sehr wichtig. Und die zweite: Die meisten - nämlich über 90 Prozent - sind davon überzeugt, dass Vorlesen bei diesem Vorhaben extrem nützlich ist. Das Dumme ist nur, dass viele mit dem Vorlesen erst spät, bisweilen auch viel zu spät beginnen.

In nackten Zahlen ausgedrückt: 55 Prozent der Eltern in Deutschland lesen ihren Kindern in den ersten zwölf Monaten nicht regelmäßig vor. Und noch ein wenig dramatischer - bei immerhin 28 Prozent der Erziehungsberechtigten unterbleibt dies sogar in den ersten drei Lebensjahren. Darüber gibt jetzt eine Studie unter anderem der in Mainz ansässigen Stiftung Lesen Auskunft, bei der repräsentativ ausgewählte Eltern in 523 Familien mit Kindern zwischen drei und 39 Monaten persönlich in ihren Haushalten befragt wurden.

Augenfällig ist dabei die Diskrepanz zwischen dem bildungsfrohen Anspruch und der alltagspädagogischen Wirklichkeit. Ursachenforschung wird mit der Studie im Detail zwar nicht betrieben, doch lassen sich drei Gründe dennoch ableiten. Erstens: Unkenntnis über die Bedeutung und Zeitpunkt eines ersten Vorlesens. Zweitens: Unsicherheit in der Wahl der angemessenen Bücher. Und drittens: ein niedriger Bildungshintergrund der Eltern mit oftmals eigener fehlender Lesesozialisation.

Wann sollte man also mit dem Vorlesen beginnen? Die Antwort ist die denkbar einfachste: so früh wie eben möglich. Das sind in den ersten Lebensmonaten des Kindes in der Regel dann nur Bücher mit großen Bildern. Doch die Aufnahmefähigkeit werde dadurch bei den Babys enorm geschult. Zugleich wird eine Haltung eingeübt - mit dem Kind auf dem Schoß und mit gemeinsamer Blickrichtung aufs Buch.

Ein Ritual sollte es werden, so Lukas Heymann von der Stiftung Lesen, dessen Dauer stets das Kleinkind bestimme. Diese Nähe verliert plötzlich auch den vielleicht unguten Beigeschmack von übertriebenem Bildungseifer. 90 Prozent der befragten Eltern sagten, dass das Vorlesen und das Kuscheln vor allem Spaß mache.

Wenn das Lesen als weiterhin unabdingbare Kulturtechnik gilt, dann muss diese sehr zeitig erlernt werden. Nicht erst, wenn das Kind zu sprechen beginnt, wie es jeder fünfte Erziehungsberechtigte glaubt. Die erste Trainingsstunde beginnt mit dem Betrachten der Bilderbücher. Denn die Vernetzungen im Gehirn, die mit der Zuordnung von Bild und Objekt geschaffen werden, sind fundamental. Hierbei entsteht die grundlegende Hardware, sagen Leseforscher.

Diese Hardware im Kopf des Erden- und Lese-Neulings muss permanent gefüttert werden. Schon in der frühen Vorlesephase werden nicht nur Wörter aufgenommen, sondern auch erste syntaktische Strukturen. Beim Lesenlernen wird viel entschieden, bevor überhaupt die Schule beginnt. Und das sogenannte Lesefenster - damit ist jene Zeit gemeint, in der sich die Sprache entwickelt und das Interesse für Bücher und Geschichten geweckt wird - ist überschaubar.

Wenn beide Eltern kaum Spaß am Lesen haben, wird auch der Sprössling in aller Regel keine Leseratte mehr. Von der "Lost Generation" sprechen dann die Sprachforscher. Anders formuliert: Die gern geschmähten Pisa-Kinder haben meist auch Pisa-Eltern. Ob jemand zum Leser wird, entscheidet sich früh; ob er dann ein Leser bleibt, vergleichsweise spät. Allgemein gilt, dass der Sprachchip im menschlichen Gehirn am Ende der Grundschule mehr oder weniger fertig ist. Danach gilt es, die Leselust zu fördern. Zum Beispiel durch die Teilnahme am bundesweiten Vorlesetag, der einmal pro Jahr stattfindet.

Doch Obacht, an diesem Punkt lauert eine weitere Falle. Laut Studie würde die Mehrheit der Eltern mit dem Vorlesen aufhören, wenn ihr Kind selbst das Lesen gelernt hat. Böser Fehler. Lukas Heymann empfiehlt, das Vorlesen noch ein bis zwei Jahre weiter zu praktizieren.

Es existieren noch gewagtere Lese-Theorien. Danach ist der alte und eingängige Merksatz, dass man zum Leser nicht geboren, wohl aber erzogen wird, falsch. Denn offenbar sollen bereits Embryos Geschichten, die von ihrer Mutter vorgelesen werden, später wiedererkennen können. Das sagt Professor Sabina Pauen vom Psychologischen Institut der Universität Heidelberg. Sie ließ sechs Wochen vor dem Geburtstermin schwangere Frauen immer wieder dieselbe Geschichte vorlesen. Und: Die späteren Säuglinge zeigten unter verschiedenen vorgelesenen Texten eine ausgeprägte Vorliebe stets für diese eine Geschichte.

Aber welche soll und könnte das nun sein? Die Frage erscheint simpel, ist aber offenbar eine Hürde. Denn 25 Prozent der befragten Eltern empfinde die Buchauswahl für Kleinkinder als schwer. Aus dem Wust der Neuerscheinungen hat die Stiftung Lesen eine Empfehlungsliste ermittelt und auf ihrer Internetseite publiziert. Fünf Titel davon: "Tierkinder" (ab 3 Monaten, Dorling Kindersley); "Meine ersten Bilder" (ab 3 Monaten, Ravensburger); "Schnick, Schnack, Schabernack" (ab 3 Monaten, Gerstenberg); "Einschlafreime für ganz Kleine" (ab 6 Monaten, Duden) und "Kuckuck, wer quiekt da?" (ab 6 Monaten, Coppenrath).

Lesetipps sind gut, meist auch verlässlich. Aber wahrscheinlich wird man das einzig richtige, optimale Buch zum Vorlesen nie finden und sich selbst auch nie ausreichend informiert oder gewappnet fühlen. Es macht nichts, denn auch diese frohe Kunde gibt die Studie hinter all ihren Zahlenkolonnen preis: Im Grunde kann man nur einen einzigen Fehler machen - nicht vorzulesen. Darum sollte man damit bald beginnen, vielleicht nicht erst heute Abend, sondern gleich jetzt.

(los)
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