Weltgesundheitsorganisation Brasilien will "Kaiserschnitt-Epidemie" eindämmen

São Paulo · Immer mehr Frauen bringen ihre Kinder per Kaiserschnitt zur Welt. In kaum einem anderen Land sind es aber so viele wie in Brasilien: Inzwischen ist dort jede zweite Entbindung eine OP. Jetzt sucht das Land nach Lösungen.

Heftige Wehen, laute Schreie - viele werdende Mütter kriegen beim Gedanken an den Kreißsaal weiche Knie. In Brasilien ist die Angst der Frauen vor einer normalen Geburt sogar so groß, dass sie sich immer öfter für einen Kaiserschnitt entscheiden. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird dort mehr als jedes zweite Kind mit dem chirurgischen Eingriff auf die Welt geholt. Die Zahl medizinisch nicht notwendiger Kaiserschnitte steige weltweit, warnte die Organisation im April.

Mit einer Rate von 55,6 Prozent gehört Brasilien nach WHO-Angaben zu den weltweiten Anführern der Liste. Mehr Kaiserschnitte werden nur in der Dominikanischen Republik vorgenommen (56,4 Prozent). Doch der kleine Karibikstaat hat nur ein Zwanzigstel der rund 200 Millionen Einwohner Brasiliens.

In der brasilianischen Politik und in den Medien ist daher von einer "Kaiserschnitt-Epidemie" die Rede. Dabei ist der operative Eingriff für Mutter und Baby mit hohen Risiken verbunden. Auch in Deutschland sind rund ein Drittel der Geburten Kaiserschnitte, wie Zahlen der WHO belegen (2013: 31,8 Prozent). Die Organisation empfiehlt 10 bis 15 Prozent.

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Foto: NGZ

Brasilien nimmt die Warnung als Anlass, gegen die Kaiserschnitt-Flut vorzugehen. Denn die Furcht der Brasilianerinnen ist nicht unbegründet. "Die natürliche Entbindung ist in Brasilien besonders schmerzhaft und riskant", sagt die Ärztin Carmen Simone Diniz, Koordinatorin der 2014 erschienenen Studie "Nascer no Brasil" ("In Brasilien geboren werden"). Schuld sei das Gesundheitssystem.

So würden viele von der WHO empfohlene Richtlinien nicht übernommen. Die Frauen könnten nicht selbst bestimmen, in welcher Position sie gebären wollten. Zudem werde für gewöhnlich das wehenfördernde Hormon Oxytocin verabreicht, welches die Schmerzen verstärke. Dadurch werde der Kaiserschnitt zur "Erlösung", sagt die Geburtshelferin Simone Diniz. Der Eingriff sei für viele eine Flucht vor diesem Szenario.

Im Gesundheitssystem fehlen auch multidisziplinäre Teams aus Pflegepersonal und Geburtshelfern, wie Suzanne Serruya von der WHO in Brasilien kritisiert. Zudem seien Schwangere oft nicht ausreichend über die Eingriffe informiert und hätten Vorurteile gegen eine normale Entbindung. Dies mache den Kaiserschnitt in Brasilien nicht nur zu einem "Problem des öffentlichen Gesundheitssystems", sondern auch zu einer "kulturspezifischen Angelegenheit", sagt Serruya.

Auch Geld spielt eine bedeutende Rolle. Im Gegensatz zur normalen Geburt lassen sich die ein- bis zweistündigen Eingriffe genau planen. Der Kaiserschnitt sei für Ärzte und Kliniken lukrativer als normale Geburten, sagt Etelvino Trindade, Präsident des brasilianischen Verbandes für Gynäkologie und Geburtshilfe. Mit festgelegten OP-Terminen lasse sich die Belegung der Krankenhäuser besser planen. "Das kann man nur mit einem Kaiserschnitt". Dem Staat und dem öffentlichen Gesundheitswesen kommen die dabei entstehenden Kosten allerdings teuer zu stehen.

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Foto: Techniker Krankenkasse

Die Zahl der Eingriffe ist vor allem ein gesundheitliches Risiko für Mutter und Kind. Die Gefahr von Atemwegserkrankungen bei Babys erhöht sich durch den Eingriff nach Angaben des brasilianischen Gesundheitsministeriums um bis zu 120 Prozent. Das Risiko, dass die Mutter bei der Geburt stirbt, steige um das Dreifache. "Aufgrund all der Risiken, die jede Operation mit sich bringt, sollte sie stets die Ausnahme bleiben", sagt die brasilianische WHO-Expertin Serruya. "Kaiserschnitte können Leben retten. Doch es ist wissenschaftlich unumstritten, dass die Geburt normal verlaufen sollte."

Mit neuen Vorschriften versucht Brasilien, der Entwicklung zur Kaiserschnitt-Nation entgegenzuwirken. In einem Pilotprojekt mit mehr als zwei Dutzend Krankenhäusern werde die Geburtshilfe verbessert, sagt der brasilianische Gesundheitsminister Arthur Chioro. Das Klinikpersonal wird nach Angaben der Behörde geschult, die Betreuung auf den Stationen kontrolliert. Auch die werdenden Mütter würden in Zukunft besser über normale Geburten informiert werden.

Zudem treten in diesem Monat Juli neue Richtlinien in Kraft. So müssen Krankenkassen von diesem Monat an Versicherte über den prozentualen Anteil von Kaiserschnitten informieren, die von einzelnen Ärzten und Krankenhäusern vorgenommen werden. Brasilien hofft, dass den werdenden Müttern so die Angst vor einer normalen Geburt genommen werden kann, damit sie sich in Zukunft nicht gezwungen sehen, unnötige Risiken einzugehen.

(dpa)
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