Psychologie Warum Sie sich heute erst einmal umarmen lassen sollten

Körperkontakt ist wichtig für die körperliche und seelische Gesundheit. Wenn uns diese Berührungen fehlen, kann das gravierende Folgen haben - man kann sogar sterben.

 Eine Umarmung tut nicht nur der Psyche gut, sondern bringt den Blutdruck runter und entstresst (Symbolbild).

Eine Umarmung tut nicht nur der Psyche gut, sondern bringt den Blutdruck runter und entstresst (Symbolbild).

Foto: Shutterstock/Eugenio Marongiu

Warum fühlt sich eine Massage so gut an? Und warum sehnen wir uns nach einem Streit nach einer versöhnenden Umarmung? Weil sie uns berühren, könnte man kurz und knapp sagen. Berührungen können eine ganze Menge bewirken. Ohne körperlichen Kontakt würden wir nicht existieren.

Auf schockierende Weise bewies das ein Experiment Friedrichs II. Er wollte wissen, welche Sprache Kinder entwickeln würden, wenn sie ohne Ansprache und Zuneigung groß würden. Das furchtbare Ergebnis: Alle Kinder starben. "Weil Berührungen so wichtig sind wie die Luft zum Atmen", sagt Martin Grunwald. Er leitet das Haptik-Forschungslabor der Universität Leipzig und forscht schon lange daran, was taktile Reize eigentlich bewirken.

Das passiert beim Körperkontakt in und mit uns

Der nüchterne Teil seiner Betrachtungsweise: "Berührungen sind nichts anderes als eine Deformation der Haut mit zusätzlicher Temperaturwirkung." Die bleibt vom Körper nicht unbemerkt. Sensible Rezeptoren in der Haut senden jede Veränderung wie zum Beispiel die von Temperatur und Druck, ans Hirn. Der Körper schüttet Botenstoffe aus. Die Organe reagieren darauf. Durch das Kuschelhormon Oxytocin nimmt die Herzfrequenz ab und der Blutdruck sinkt. Die Konzentration des Stresshormons Cortisol sinkt. Die Atmung wird langsamer, die Blutgefäße entspannen sich. "Man wird ruhiger und entspannter", sagt Grunwald.

Enger als mit jedem anderen Sinn ist die Psyche mit dem Tastsinn verbunden. Wie berührend Körperkontakt sein kann, weiß auch Physiotherapeutin Peri Mechelinck. Es ist keine Seltenheit, dass Patienten bei einer Massage oder manuellen Therapie beginnen, über das zu reden, was sie bedrückt. "Berührung öffnet die Seele", sagt die Korschenbroicher Therapeutin.

Helmut Finzel, Pfarrer der katholischen Pfarrgemeinde Sankt Remigius in Viersen, kennt ebenfalls zahlreiche berührende Momente. Beim Handauflegen oder Segnen kann er spüren, wie die Menschen ruhiger werden, dass etwas passiert. "Manchmal fließt dann auch ein Tränchen."

Menschen fühlen sich nicht nur entstresster und weniger angespannt, wenn man ihnen körperliche Zuwendung schenkt. Verletzungen werden als weniger schmerzhaft empfunden, Wunden heilen besser.

Auch das Immunsystem profitiert von Berührung, fand die amerikanische Psychologin Tiffany Field heraus. Körperkontakt wie etwa der durch Massieren regte die Produktion natürlicher Killerzellen an, die sogar Tumorzellen abtöten können. Psychologen aus Pittsburgh zeigten, dass sich oft Umarmte seltener mit Erkältungsviren infizierten.

Frühchen sterben seltener, wenn man sie kuschelt

Von Frühgeborenen weiß man, dass sie bei intensivem Körperkontakt schneller wachsen und zügiger an Gewicht zulegen. Schon lange hat man darum die "Minimum-Touch"-Strategie aufgegeben, mit der man bis in die 80er Jahre zu früh Geborene möglichst steril in Brutkästen legte und aus Angst vor Infektionen von Berührungen abschirmte. Bis Marina Markovitch in einem österreichischen Kinderhospital Pionierarbeit leistete und dort den Weg für eine sanfte Behandlung von Frühchen ebnete. Seitdem zählt Kuscheln auf Frühchenstationen zur Therapie. Die Sterblichkeitsrate ging um mehr als ein Viertel zurück.

Der Tastsinn ist der erste Sinn, der sich beim Fötus entwickelt. Schon in der achten Schwangerschaftswoche kann das Ungeborene im Bauch auf Berührungen reagieren. "Der Mensch ist dann gerade einmal zwei Zentimeter groß", sagt Christel Bienstein, Pflegewissenschaftlerin der Uni Witten-Herdecke. Wenn uns auch Sinne wie das Sehen oder Hören im Alter verlassen, so bleibt der Tastsinn bis ins hohe Alter hinein unbeeinträchtigt erhalten.

Jeder Dritte leidet an Berührungsarmut

Dieses Gut wird nach Meinung vieler Forscher vernachlässigt. Was besonders in frischen Partnerschaften und Familien noch seinen Platz hat, werde ansonsten stiefmütterlich behandelt. Eher streichle man heute einen Touchscreen und verschicke Emojis als Zeichen der Zuneigung, als einen Menschen wirklich zu umarmen, kritisiert Cem Ekmekcioglu, Physiologe und Forscher am Zentrum für Public Health an der Medizinischen Universität Wien.

Jeder Dritte leide schätzungsweise an Berührungsarmut, schreibt er in seinem Buch "Das Glück der Berührung". Vor allem alte Menschen werden zu Unberührten. Sie erreicht oft nicht mehr als der flüchtige Hautkontakt vom Pfleger mit Gummihandschuhen, der ihnen beim täglichen Waschen und Wenden zugedacht wird.

Mancher Single empfange kaum mehr Berührung als das Händeschütteln von Geschäftspartnern, kritisiert Haptik-Forscher Grunwald. Es herrsche eine weit verbreitete Körperängstlichkeit. Ihr Ursprung: Sorge vor falsch verstandener Berührung und deren möglicher Folgen. Ist Körperkontakt nicht mehr gesellschaftsfähig?

Die Deutschen umgibt ein unsichtbarer Wall

Forscher haben herausgefunden, dass die Deutschen ein unsichtbarer Annäherungswall umgibt. Werden 45 Zentimeter Abstand unterschritten, fühlen sich viele belästigt.

Berührungsarmut treibt seltsame Blüten, der ein voller Markt von Wellnessmasseuren, Spa-Therapeuten oder handauflegenden Heilern gegenübersteht. Sexualbegleiter erfüllen geistig oder körperlich eingeschränkten Menschen den Wunsch nach Streicheleinheiten; und mit Kuschelpartys, wie sie beispielsweise in Köln mit Domblick, Frankfurt oder in Berlin angeboten werden, werden bisher ungeahnte Kuschelbedürfnisse durch Kuschelkonzerte und Berührungsräume erfüllt.

Nicht nur das Berühren, auch das Fühlen wird zur Mangelware, sorgt sich Grunwald. Das könnte dazu führen, dass psychische Erkrankungen zunehmen. Einige seiner Untersuchungen deuten darauf hin. So beobachtete er beispielsweise einen Zusammenhang zwischen mangelndem Körperkontakt in der Kindheit und Magersucht in der Jugend.

Aber es gibt auch positive Entwicklungen: In der Alten- und Krankenpflege hat man sich das Wissen um die Kraft von Berührungen zunutze gemacht. Auf Basis der sogenannten basalen Stimulation entwickelt Pflegewissenschaftlerin Bienstein intelligente Modelle, durch die sich körperliche Nähe und Berührung beispielsweise durch bestimmte Waschungen in die tägliche Pflege integrieren lassen. Aus Untersuchungen weiß sie, dass auch die Pflegenden dadurch das Gefühl bekommen, den Patienten etwas Gutes zu tun.

(wat)
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