Wenn Freizeit keine freie Zeit mehr ist Krank von Hobbys und Schule

Hamburg/Berlin · Um sieben Uhr heißt es aufstehen, dann geht es ab in die Schule, danach stehen die Hausaufgaben an und dann ist Zeit für Schwimmtraining, Tanzkurs, Musikschule und am Ende der Woche den Fußballverein. Freizeit ist alles andere als freie Zeit. Das Kind leidet und seine Gesundheit erst recht.

Alle meinen es gut: Schon im Kindergarten dürfen Kinder heute Englisch lernen oder ein Instrument in der Musikschule. Wenn sie in die Schule kommen, können manche schon lesen. Eltern beteuern, der Spross habe es selbst so gewollt und nicht abgelassen davon. I-Dötzchen dürfen in der Schule spielerisch lernen und zeigen ihren Ehrgeiz, wenn sie ohne zu Straucheln in zwölf Jahren ihr Abitur durchziehen. Und weil sie es unbedingt möchten, können sie auch noch Reiten lernen, sich tänzerisch ausprobieren und zum Spitzenstürmer in der Jugendmannschaft des heimischen Fußballvereins werden.

Kinder wollen so viel und viele Eltern wollen das auch — und sogar noch viel mehr. Leider übersehen manche dabei, dass die Aktivitäten, die eigentlich der Erholung dienen sollen, zur Leistungsoffensive mutieren. Kinder, die Zerstreuung bräuchten, haben nur das eine: Stress.

Bloß keine Langeweile

78 Prozent der Eltern räumen ein, dass ihre Kinder unter Zeitdruck geraten. Soweit eine Studie des Schreibwarenherstellers Staedtler. Der Nachwuchs findet keine Balance mehr zwischen schulischem Leistungsdenken und entspannender Freizeitgestaltung. Das straffe Zeitkorsett lässt ihnen nicht genügend Freiräume, sich an einen ruhigen Ort zurückzuziehen oder einfach nach Lust und Laune zu spielen. Auch Langeweile auszuhalten und aus dieser Situation heraus wieder produktiv werden zu können, kennen viele Kinder heute nicht mehr. Sie lehnen sich zurück in einer Bedien- und Konsummentalität. Durch die fühlen sich viele Eltern animiert, in freien Zeiten den Eventmanager zu mimen.

Der Nachwuchs kann kaum mehr tun, was den Geist entspannt und beflügelt. Selbst Hobbys werden als Möglichkeit forciert, sich weiterzuentwickeln, die motorischen Leistungen auszubauen, Koordination, Disziplin und Teamgeist zu erlernen. "Gleichzeitig lernen Kinder, dass kontinuierliches Training die Leistungsfähigkeit und den Spaß erhöht", erklärt Dr. Miriam Bachmann, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamburg. Ist der ganze Tag ausgebucht, werden aus Kindern Mini-Manager, die im Zeitkorsett gefangen sind. Das richtige Maß ist wichtig, sonst drohen dem Nachwuchs Überforderung und Stress. Mit gesundheitlichen Konsequenzen:

Körperliche Beschwerden, die Stress verusacht

Bei jedem fünften Kind unter 18 Jahren führt Schulstress zu körperlichen Beschwerden, das ergab eine Forsa-Studie der Techniker Krankenkasse. Kinder und Jugendliche stehen so sehr unter Strom, dass es zu körperlichen Beschwerden wie beispielsweise Kopf- oder Bauchschmerzen kommt. Häufig treten in Folge von Stress Symptome wie Schlafstörungen, Appetitlosigkeit oder Gereiztheit auf. Auch eine verringerte Fähigkeit, mit Niederlagen umzugehen, kann laut Prof. Michael Schulte-Markwort damit in Zusammenhang stehen. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) und beschäftigt sich schon lange ausführlich mit dem Thema Stressbelastung bei Kindern.

Steht man unter Druck, produziert der Körper die Stresshormone Adrenalin und Cortisol. Gönnt man dem Organismus nicht die Zeit, diese zum Beispiel durch Bewegung abzubauen, macht das den Körper krank.

Psychische Auffälligkeiten wegen Stress

Neben körperlichen Symptomen sind es psychische Krankheiten, die der Schul- und Freizeitstress produziert. Die Leuphana-Universität Lüneburg hat herausgefunden, dass fast jeder dritte Schüler unter depressiven Stimmungen leidet. An Haupt- und Realschulen sind deutlich mehr Schüler als an Gymnasien betroffen. Auch hier fanden die Forscher heraus, dass die Probleme der Jugendlichen zwischen elf und 18 Jahren oft mit Schulstress und Leistungsdruck zusammenhängen. Befragt wurden im Auftrag der Krankenkasse DAK insgesamt 6 000 Jungen und Mädchen aus sieben Bundesländern.

Es ist die große Sehnsucht nach dem Nichtstun, die unerfüllt bleibt. In der Studie geben 24 Prozent der Schüler an, "oft da zu sitzen und nichts tun zu wollen". Jeder zehnte Befragte stimmt der Aussage zu "kein Mensch versteht mich". Mit dem Alter steigt der Anteil depressiver Verstimmungen an. 33 Prozent sind es im 18. Lebensjahr. Dabei gibt es zwischen den Geschlechtern kaum einen Unterschied.

Stress ebnet Depression den Weg

"Mütter und Väter sollten darauf achten, ob sie Überforderungssignale bei ihren Sprösslingen bemerken", rät York Scheller, Diplom-Psychologe bei der TK. Denn Stress schlägt nicht nur auf die körperliche Gesundheit, sondern schadet auch der Psyche. Kinder, die unter zu viel Stress leiden, können zum Beispiel häufig gereizt, erschöpft oder aggressiv sein. Haben sie keinen erholsamen Ausgleich, fühlen sich unter Dauerstrom, haben Angst vor schlechten Noten, entwickeln unter der Dauerbelastung Versagensängste, dann ist auch die Gefahr einer Depression gegeben.

Darum raten Psychologen dazu, ständig miteinander im Gespräch zu bleiben. Eltern sollten ihren Kindern immer anbieten, zum Gespräch zur Verfügung zu stehen, sich dann Zeit nehmen und ohne Schere im Kopf über alles reden.

Klagt ein Kind immer wieder über Kopf- oder Bauchschmerzen, ist es oft traurig oder niedergeschlagen und bessert sich der Zustand auch nach Gesprächen oder einem frei gestaltetem Zeitplan mit offenen Erholungstagen nicht, dann ist es an der Zeit, gemeinsam mit einem Arzt zu beraten, welche Hilfe man darüber hinaus in Anspruch nehmen sollte.

(wat)
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