Jerusalem-Syndrom Wie Touristen für ein paar Tage zu Heiligen werden

Düsseldorf · Besonders zu Weihnachten und anderen religiösen Hochfesten tritt in Jerusalem ein skurriles psychiatrisches Phänomen zutage. Jedes Jahr werden Dutzende ausländischer Touristen dort vom Jerusalem-Syndrom befallen: Plötzlich halten sie sich für Maria, Jesus oder Moses.

Betend durch die Wüste — manche Menschen verlieren in Jerusalem vorübergehend den Verstand.

Betend durch die Wüste — manche Menschen verlieren in Jerusalem vorübergehend den Verstand.

Foto: Shutterstock/Photobank gallery

Jerusalem — nicht nur Pilger zieht es in die Stadt in Israel, die vor etwa 5000 Jahren von König David gegründet wurde. Seit jeher ist sie Sehnsuchtsort von Menschen verschiedener Religionen. Christen gehen dort auf Spurensuche, Juden und Muslime. In Jerusalem wurde Christus zum Tode verurteilt, gekreuzigt und auch begraben. Seine Totenstätte in der Grabeskirche ist Magnet für unzählige Pilger. Der Tempelberg, die Klagemauer oder der Felsendom — sie zählen zu den Orten, an denen eine seltsame Krankheit zutage tritt: Das Jerusalem-Syndrom.

Die religiöse und historische Gewalt dieser alten Stadt überwältigt immer wieder aufs Neue Touristen und bringt sie vorübergehend um den Verstand. Fernab der Heimat meinen sie, eine Figur aus der Bibel zu verkörpern. In die Rolle eines biblischen Charakters geschlüpft, deuten sie die Zeichen der heiligen Schrift. Andere verkünden den Weltfrieden oder sehen sich berufen, die Welt zu retten. Es wird von einer Frau erzählt, die in der Geburtskirche in Bethlehem ihr Kind entbinden wollte. Sie hielt sich für die Jungfrau Maria. Andere geben vor Johannes der Täufer zu sein, Moses oder König David.

Nicht nur psychisch labile Menschen geraten in diesen Sog. Auch gesunde Menschen verfallen manchmal urplötzlich religiösen Wahnvorstellungen. Manche versteigen sich in ihre persönlichen Vorstellung vom antiken Jerusalem. Die lange herbeigesehnte Reise wird dann zum Auslöser einer schweren psychischen Krise.

Die Zahl der Betroffenen ist so groß, dass das Jerusalemer Herzog Memorial Hospital eine eigene Abteilung für die Behandlung derart Kranker gegründet hat. Dort nehmen sich Professor Eliezer Witztum und auch Dr. Moshe Kalian, beides renommierte Psychiater, der Verwirrten an. Seit mehreren Jahrzehnten beschäftigen sie sich mit dem besonderen Wahnsinn, der von der Stadt Davids ausgeht.

Vor allem während christlicher oder jüdischer Feiertage wie Weihnachten oder Ostern beobachten sie eine Zunahme des spontanen Persönlichkeitswechsels. Zum Heilsbringer berufen, funktionieren die Betroffenen weißen Hotelbettlaken zu Tuniken um und pilgern laut singend und betend zu den heiligen Stätten. Solche Auswüchse gelten als die ersten Anzeichen der Erkrankung und sind dem israelischen Außenministerium ebenso wie zahlreichen Reiseveranstaltern bekannt: "Die Symptome zeigen sich in der Regel am zweiten Tag ihres Aufenthalts in Jerusalem. Sie fühlen dann eine unerklärliche Nervosität und Angst", erklärt das Israel Ministry of Foreign Affairs auf seiner Seite unter dem Stichwort "Jerusalem-Syndrom". Im internationalen Diganoseschlüssel für psychische Krankheiten kommt es dennoch nicht vor. Dort fällt es wegen seinem episodenhaften Auftreten unter "Akute und vorübergehende psychotische Störung".

Was andere mit den Betroffenen erleben ist meist aber dramatisch. Oft setzen sie sich von ihren Familien oder Reisegruppen ab, weil sie das Bedürfnis verspüren, auf sich allein gestellt zu sein. Zwanghafte rituelle Waschungen gehören ebenso zur unerwarteten Metamorphose wie auch die äußere Veränderung — Betroffene lassen sich einen Bart wachsen oder hüllen sich in altertümlich Gewänder. Äußerlich gleichen sie sich auf diese Weise der biblischen Figur an, die sie zu sein glauben.

Auch Susanne Poethen vom Kölner Reiseveranstalter Shalom Israel Reisen kennt solch weiß gewandete Erscheinungen in "Jesussandalen", wie sie sagt. "Vor zwei Jahren habe ich vor der Geburtskirche jemanden im Gewand und mit Jesussandalen erlebt", erzählt sie. "Meist sind sie nicht aggressiv und leben von dem, was sie von den Touristen bekommen", fügt sie an.

Seit rund 30 Jahren organisiert Poethen Gruppenreisen für das Unternehmen. In einer eigenen Reisegruppe hatte sie noch nie einen Moses oder Paulus. Doch erinnert sie sich, dass vor allem in den 80er Jahren Jerusalem auffallend stark von biblischen Persönlichkeiten besucht war. Man traf sie vor allem vor der Erlöser- oder Grabeskirche, andere mit schwerem Kreuz beladen auf dem Leidensweg Jesu, der Via Dolorosa. Berichtet wurde auch von einem Mann, der im Hotel dem Küchenpersonal abverlangte, das letzte Abendmahl vorzubereiten.

Das fällt in die Zeit, in der das medizinische Ausnahme-Phänomen erstmals klinisch beschrieben wird. In den 1930er Jahren beschrieb der israelische Psychiater Heinz Hermann das Krankheitsbild schon als Jerusalem-Fieber. Doch war es Dr. Yair Bar El, ehemals Direktor der Psychiatrischen Kfar Shaul Klinik, der es dann zwischen 1979 und 1993 genauer beschrieb und behandelte. Darunter 470 Touristen, die vorübergehend für verrückt erklärt worden waren.

Er unterscheidet erstmals drei verschiedene Typen. Typ I ist medizinisch vorerkrankt, ist beispielsweise manisch-depressiv oder schizophren. Die Reise nach Jerusalem oder auch öffentliche Auftritte mit Predigt und Gebeten sind Ausdruck ihrer allgemeinen Krankheit. Typ II ist grundsätzlich anfällig für psychische Erkrankungen. Die Betroffenen reisen nach Jerusalem und haben im Geiste ihre fixe Idee schon mit im Gepäck. Zu Typ III zählen die wenigsten Menschen: Sie kommen als normale Touristen in die Heilige Stadt und werden erst dort plötzlich psychotisch.

Einige Experten bezweifeln heute jedoch, dass es diese Form überhaupt gebe. Andere ordnen das Phänomen meist den akuten, vorübergehenden psychotischen Störungen zu. Diese können mit Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder Erlösungsphantasien einhergehen. Besonders bei schizophrenen Patienten ist das so. Was aber in den anderen Typologien zu solch seltsamen Auswüchsen führt, ist ein Rätsel für Mediziner und Psychiater. Es gibt Raum für Spekulationen wie etwa der, es treffe Menschen, die sich in einer Lebenskrise befänden. Diese entlade sich in der religiös geprägten Stadt. Jens Clausen, hingegen vermutet als Auslöser die durch Urlaubssehnsüchte und Reisestress verlorene innere Balance. Lange Zeit war er in der Psychiatrie tätig und schrieb das Buch "Das Selbst und die Fremde", in der er psychische Grenzerfahrungen auf Reisen beschreibt.

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Als behandlungsbedürftig gilt das Jerusalem-Syndrom meist erst, wenn die Betroffenen "Zeichen von Selbst- oder Fremdgefährdung erkennen lassen", so Dr. Jens Clausen in einem Fachbeitrag in "Psychologie heute". Die Jerusalemer Psychiater Witzmann und Moshe berichten so zum Beispiel in ihrem Buch "Jerusalem of Holiness and Madness von einem Niederländer namens Tobias. Er behauptete der neue Messias zu sein und wird schließlich in vollkommen dehydrierten Zustand und mit schweren Erschöpfungssyndromen in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen.

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Nicht immer muss die Behandlung so schwierig sein, wie die von schizophrenen Patienten. In manchen Fällen reicht es aus, die Betroffenen aus der Stadt zu bringen. Nach einigen Tagen lassen die Symptome von selbst wieder nach. Bei anderen lässt die Psychose unter Behandlung nach. Vielen ist ihre seltsame Verwandlung unangenehm. Wieder klar bei Verstand, mögen sie nach Beschreibung der Psychiater meist nicht mehr darüber reden. Nur in seltenen Fällen bleibt eine anhaltende Identitätsstörung.

(wat)
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