Gesundheit Internetsucht bedroht 300.000 Kinder

Berlin · Jedes fünfte Kind ist pro Tag länger als vier Stunden online, ebenso viele fühlen sich laut einer Studie ruhelos, wenn sie weniger im Netz surfen dürfen. Experten wollen strengere Auflagen für Spielehersteller.

Das sind sichere Zeichen für eine Onlinesucht
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Das sind sichere Zeichen für eine Onlinesucht

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Foto: gms

Sie sind mit dem Smartphone ständig online, schauen alle paar Minuten auf den Bildschirm, spielen stundenlang am Computer: Mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland sind laut Experten gefährdet, eine Internetsucht zu entwickeln. So weisen bereits knapp fünf Prozent der 12- bis 17-Jährigen eine riskante Nutzung des Internets auf, mit deutlichen Zeichen einer Abhängigkeit. Das geht aus einer repräsentativen Studie des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Krankenkasse DAK hervor, die gestern in Berlin präsentiert wurde.

Mehr als 1000 Eltern von 12- bis 17-Jährigen sind in der Studie zur Internetnutzung ihrer Kinder telefonisch befragt worden. Damit ist es nach Angaben der DAK die erste Untersuchung, die sich bei dem Thema ausschließlich an Eltern und ihre Einschätzung wendet.

Demnach reagiere mehr als jedes fünfte Kind ruhelos und gereizt auf Einschränkungen in der Onlinenutzung. Viele Kinder nehmen sich zwar vor, nur eine bestimmte Zeit online zu bleiben. Doch rund die Hälfte der Kinder hält diese Grenze nicht ein. Jedes zehnte Kind, so seine Eltern, nutze das Internet, um vor Problemen der wirklichen Welt zu fliehen.

Auffällig ist, dass etwa die Hälfte der befragten Eltern ihren Kindern keine zeitlichen Vorgaben für die Internetnutzung macht. Und so verbringen 54 Prozent der 12 bis 17-Jährigen an Werktagen mehr als zwei Stunden im Internet, jedes fünfte Kind bereits mehr als vier Stunden. An den Wochenenden schnellt die Nutzungsdauer nach oben, da verbringt bereits jedes fünfte Kind mehr als sechs Stunden pro Samstag oder Sonntag im Netz. Das Internationale Zentralinstitut für Jugend- und Bildungsfernsehen empfiehlt, ab einem Alter von elf Jahren maximal eine Stunde am Tag vor Computer oder Spielekonsole zu sitzen, ab 14 Jahren 1,5 Stunden.

Doch die reine Nutzungsdauer sagt laut Suchtexperten wenig über eine Abhängigkeit aus. Entscheidend sei, ob die Nutzung andere Bereiche in Mitleidenschaft zieht. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter des Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters an der Hamburger Uni-Klinik Eppendorf, sagte, "dass Suchtgefährdung im Kinderzimmer besteht". Demnach würden 20 Prozent der Eltern angeben, dass sich ihr Kind gänzlich vom Internet in Anspruch genommen fühle, 15 Prozent hätten die Erfahrung gemacht, dass das Kind schon einmal gelogen habe, um zu verbergen wie viel es wirklich online ist. Und jedes achte Kind muss demnach immer mehr Zeit im Netz verbringen, um zufrieden zu sein. Thomasius warnt daher vor Folgen einer Internetsucht, die häufig durch Online-Spiele ausgelöst werde. "Typischerweise verbringen diese Jugendlichen acht bis 10 Stunden am Tag mit dem Spielen", so der Suchtexperte. Sie würden andere Menschen täuschen, um das Spielgeschehen nicht unterbrechen zu müssen, ernähren sich unregelmäßig, ersetzen soziale Kontakte in der Offline-Welt durch solche im Netz. "Ein Stillstand in der psychosozialen Reifung ist die Folge", sagte Thomasius in Berlin, der an der Entwicklung der Studie mitgearbeitet hat.

Zudem beobachte er in seiner klinischen Praxis, dass zunehmend auch Mädchen von einer Internetsucht betroffen seien. Vor Jahren sei das Geschlechtsverhältnis seiner Patienten neun zu eins zugunsten der Jungen gewesen, heute sei bereits ein Drittel weiblich. Allerdings wies er darauf hin, dass es in Deutschland noch viel Nachholbedarf bei der Forschung gebe. Etwa zur Frage, ob eine Computersucht im Jugendalter in höherem Alter zu stoffabhängigen Süchten wie Alkoholismus führen würde. Oder, ob Kinder von internetsüchtigen Erwachsenen gefährdeter sind. Unserer Redaktion sagte Thomasius, er sei für ein Smartphone-Verbot an Schulen und auch die Hersteller von Spielen wie "World of Warcraft" oder "League of Legends", die einen hohen Suchtfaktor hätten, müssten deutlich strengeren Auflagen bei der Freigabe ihrer Spiele unterworfen werden.

Ekkehard Mutschler, Mitglied im Bundesvorstand des Kinderschutzbundes, würde ebenfalls begrüßen, wenn eine Prüfung auf Suchtgefährdung in den Katalog der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) für Spielehersteller aufgenommen würden. Einem Smartphone-Verbot an Schulen erteilte er unterdessen eine Absage. Unterdessen betonte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU), dass die Risiken der Internetnutzung nicht unterschätzt werden dürften. Sie wolle daher das Thema zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit im kommenden Jahr machen.

(jd)
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