Ungewöhnliche Symptome Was Diebstahl und Sexsucht mit Depressionen zu tun haben

Ulm · Depressionen sind zur Volkskrankheit geworden. Symptome wie Antriebslosigkeit und tiefe Traurigkeit sind deshalb vielen bekannt. Doch nicht immer zeigt sich das Leiden so lehrbuchhaft. In manchen Fällen verbirgt es sich hinter riskanten Verhaltensweisen, Rückenschmerzen - oder Ladendiebstahl.

 Ladendiebstahl, Sexsucht oder Rückenschmerzen können Symptome einer Depression sein.

Ladendiebstahl, Sexsucht oder Rückenschmerzen können Symptome einer Depression sein.

Foto: Shutterstock/Lisa S.

Rund vier Millionen Deutsche leiden nach Angaben der Deutschen Depressionshilfe an einer behandlungsbedürftigen Depression, Tendenz steigend. Experten warnen davor, dass die Erkrankung immer öfter schon im Kindesalter beginnt. Zunächst als depressive Episoden, die nach einiger Zeit wieder vergehen. Doch sie holen die Betroffenen oftmals erneut ein.

Über die Hälfte der Patienten entwickeln nach Informationen der Psychotherapeutenkammer NRW nach einer ersten depressiven Episode zu einem späteren Zeitpunkt eine weitere. Mit jedem dieser Zeitfenster steigt das Risiko für weitere Abstürze ins seelische Loch. Bereits nach dem zweiten Mal liegt das Rückfallrisiko bei 70 Prozent, nach dem dritten Mal ist zu 90 Prozent programmiert, dass es weitere depressive Phasen geben wird.

Das macht nachvollziehbar, warum Depressionen zu den Krankheiten zählen, die das Leben am meisten beeinträchtigen. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation sogar stärker als Demenz, Schwerhörigkeit oder Alkoholmissbrauch. Nicht immer aber zeigt sich die schwere Erkrankung so, wie es viele erwarten würden: in anhaltender Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, dem Gefühl, mut- und kraftlos zu sein. Manchmal sind es vollkommen ungewöhnliche und für Außenstehende unerwartete Symptome, hinter denen sich die Erkrankung versteckt.

So können aggressives Verhalten, extreme Raserei mit dem Auto oder riskante Sportarten vor allem bei Männern in Wahrheit ein Hilferuf sein. Doch kaum jemand würde dabei an eine Depression denken. Für Professor Harald Gündel, den Leiter der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Ulm, sind all das mögliche Beispiele für die Anzeichen einer sogenannten männlichen Depression. Auch ausgeprägte Hektik, Gereiztheit, Sex-Exzesse, Affären, Suff oder andere Abhängigkeiten lassen das sonst so klassisch bekannte Bild der kranken Seele verschwimmen.

Andere suchen zwar den Weg zum Arzt, doch klagen sie über dort nicht über die Angst zu Versagen, Selbstzweifel oder Traurigkeit, sondern über körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen, Magendrücken oder weniger Lust auf Sex. Zeigen sich solche Symptome chronisch, also über einen längeren Zeitraum hinweg und gibt es keine körperlichen Ursachen dafür, sollte der Arzt hellhörig werden. Was sich ungewöhnlich anhört, ist weltweit wohl die häufigste Form einer Depression. "Schweregefühle auf der Brust oder diffuse Schmerzen, zu denen sich keine organischen Befunde finden lassen, sind oft Zeichen einer somatisierten Depression", sagt Gündel als Experte der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie.

Daneben kann auch wiederholter Diebstahl, etwa Ladendiebstahl — also Kleptomanie — ein verschleiertes Anzeichen sein. Die Betroffenen stehlen nicht, weil sie sich die entwendeten Waren nicht leisten können, sondern es geht um den Zustand vor und nach dem Stehlen. Eine unbändige Erregung zuvor und eine tiefe Befriedigung und einem Wohlgefühl währenddessen, das aber meist nur kurz anhält und sich dann in anschließenden Selbstvorwürfen entlädt. So beschreibt es die Psychologin Astrid Müller in einem Arbeitspapier.

Ein psychologischer Ansatz erklärt dieses Verhalten mit dem zwanghaften Versuch des Betroffenen, sich etwas zurückzuholen, was er auf anderem Weg nicht bekommen hat. Das kann zum Beispiel die Liebe und Zuwendung der Eltern sein. Durch den Diebstahl holt sich der Betroffene in dem Fall übertragen von seinen Eltern etwas und besitzt nun etwas von ihnen. Solche Handlungen lösen beim Kleptomanen zunächst ein gutes Gefühl aus.

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Die notorischen Langfinger schaffen es nicht, einem inneren Impuls zu widerstehen, auch wenn die Handlung für sie selbst oder auch andere Personen schädlich ist. Die Psychologen nennen das auch eine Impulskontrollstörung. An der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover forscht sie zudem rund um die Auslöser für Kaufsucht, die ebenfalls zu den Impulskontrollstörungen zählt. Sie tritt häufig in Kombination mit weiteren psychischen Erkrankungen auf. "Fast zwei Drittel unserer Patienten haben eine Depression", berichtet Müller.

Bereits im Jahr 1995 beschrieben Forscher einen Zusammenhang zwischen Kleptomanie, Kaufsucht und Binge-Eating. Menschen, die unter dieser Essstörung leiden, verschlingen in Fressattacken große Mengen Nahrung und verlieren vollkommen die Kontrolle darüber. Gemeinsam haben diese drei Erkrankungen, dass sie alle zu den Impulskontrollstörungen zählen, ähnlich wie auch andere Verhaltenssüchte wie beispielsweise die Sexsucht. Andere leiden an zwanghaftem Horten — das dem Messie-Syndrom sehr ähnlich ist. Meist folgen solche Auswüchse auf depressive Phasen.

Britische Forscher fanden klare Wechselwirkungen zwischen Internetsucht und der psychischen Erkrankung. Sie beschreiben, dass Internetsüchtige zum Teil zwanghafte Netz-Gewohnheiten entwickeln, die soziale Interaktionen im realen Leben ersetzen. Dabei hat die Surf-Sucht Auswirkungen auf die psychische Gesundheit dieser Menschen. Sie hatten auch ein höheres Risiko, an einer mittelschweren bis schweren Depression zu erkranken. Oft lässt sich besonders bei mit Depressionen eher nicht in Zusammenhang gebrachten Symptomen klären, was zuerst da war: das äußere Anzeichen oder die psychische Krankheit. Fühlen sich depressive Menschen vom Internet angezogen, oder ist das Netz eigentlich erst die Ursache der Depression?

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Auf der Suche nach Hilfsmöglichkeiten für die Betroffenen spielt für den Psychosomatiker und Psychotherapeuten Gündel die Frage nach dem Huhn oder dem Ei jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Aus Krisen und auslösenden Ereignissen können seiner Erfahrung nach verschiedenste Symptome erwachsen, die eigentlich einen Versuch der Krisenbewältigung darstellen. "Jeder Mensch ist einzigartig und er braucht eine individuelle Behandlung. Die Wege dorthin finden wir hinter seiner persönlichen Symptomatik."

(wat)
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