Leben, um zu arbeiten Hurra, wir brennen aus!

Die guten Vorsätze sind längst vergessen, wir stecken wieder mitten im Ausnahmezustand, zu dem der Arbeitsalltag mutiert ist. Ein Plädoyer gegen das kranke Denken, in dem Stress ein Statussymbol ist.

Irgendwo sind wir falsch abgebogen.

Früher hieß es: "Mein Haus, mein Auto, mein letzter Urlaub". Dieses stumpfe Übertrumpfen muss man nicht romantisieren; Glücks-Bringer wie alltägliche Freizeit mit seinen Lieben tauchten nie darin auf. Der Grundgedanke jedoch war nicht ganz verkehrt: Man verglich die Früchte seiner Arbeit, eben das Erarbeitete. Das, weshalb man all das täglich auf sich nimmt: das frühe Aufstehen, die Pendelei, das Kantinenessen, den nichtendenwollenden Papierkram, die Schnapsideen des Chefs.

Die unrealistischen Anforderungen, die Über- und Unterforderung. Das Multitasking. Den Zeit- und Kostendruck. Den Stress.

Heute zählt, wer auf Respekt und Applaus aus ist, oft auf: "Meine Überstunden, meine spätabends von zuhause beantworteten Mails, meine angehäuften Urlaubstage, die ich nie nehmen werde." Zunehmend definieren wir uns über unsere Arbeit. Die Beziehung zu ihr nimmt pseudo-erotische Züge an. Und perverse. Für manche ist Arbeit zum Fetisch geworden.

"I make Love to Pressure" hat der Basketballprofi Stephen Jackson einmal erklärt. Diese machohafte, ultimativ ungesunde Geisteshaltung breitet sich offensichtlich aus, erscheint den Ersten vielleicht schon als alternativlos. Bock auf Druck. Von Kopf bis Fuß auf Leistung eingestellt. Nie offline. Immer unter Strom, immer berechnend und netzwerkend. Immer bereit nicht nur zu funktionieren, sondern zu performen. Am Schreibtisch, im Fitnessstudio, in der Küche, am Tresen, auf der Tanzfläche, im Bett.

Früher war die Rente sicher, heute nichts mehr

Schon Schüler und Studenten gehen reihenweise kaputt unter dem Druck, der aus Versagensangst entsteht angesichts ihrer fast unendlichen Möglichkeiten. Der Luxus Entscheidungsfreiheit wird zur Bürde, wenn jede Entscheidung immer auch als potenzielle Fehlentscheidung gilt, wie es usus ist im Heimatland der "German Angst", zwischen Perfektion und Depression. Die absolute Freiheit der entfesselten Wirtschaft, um die niemand gebeten hat, geht auf Kosten der Sicherheit, die jeder einzelne gern hätte.

Früher war die Rente sicher, heute ist es nicht einmal das x-te nicht vergütete Praktikum, die erste Anstellung, die nächste Verlängerung des Jahresvertrags. Was im Wettbewerb weiterbringt: Selbstausbeutung.

Die Mittelschicht bricht weg, gefühlt zumindest. Was bleibt: Das Versprechen des großen Geldes und die Angst vor dem Prekariat. Und über Auf- oder Abstieg entscheidet (angeblich zumindest) nur eins: Leistung. Also werden die ersten Fremdsprachen im Kindergarten gelernt, und wenig später führen Eltern Terminkalender für ihre Kleinen. Vollgestopft mit Input: Sport, Musik und allen möglichen anderen Aktivitäten, von denen keine Selbstzweck ist. Alles muss ökonomisch verwertbar sein. Spaß ist optional, Kreativität nur noch als Soft Skill wichtig.

Befeuert von Koffein und Nikotin, Adrenalin und Alkohol

Die aktuelle Studentengeneration hat durch das Abitur nach zwölf Jahren und den Wegfall der Wehrpflicht ein bis zwei volle Jahre gewonnen. Doch statt diese Zeit zum Wachsen nutzen zu können, wird das Humankapital immer früher dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt. Und aus dem sogenannten Arbeitsleben kommt kaum noch raus, wer sich nicht extrem diszipliniert. Die Tür zum Arbeitsplatz fällt abends immer später ins Schloss. Und wenn sie es tut, sind die Mails und die Sorgen immer noch da.

Jedes Leben, das deckungsgleich ist mit einem Lebenslauf, ist eine Tragödie.

In besonders kreativen oder elitären Umfeldern herrschen allerdings längst wahre Arbeits-Kulte, die kaum weniger zerstörerisch sind als Süchte. Befeuert nur in den seltensten Fällen wie im Film von Kokain oder Metamphetaminen. Sondern maximal von Taurin und Ritalin – und meist ganz profan von Koffein und Nikotin, Adrenalin, Alkohol und Testosteron. Alltagsdrogen eben.

Dass Menschen aus Existenznot mehrere Jobs annehmen müssen und sterben, weil bei einem Nickerchen am Straßenrand Abgase ins Innere ihrer Klapperkiste gelangen, wie es in den USA geschah, ist beschämend genug. Jeder Beschreibung spottet, dass spitzenmäßig ausgebildete Bank-Praktikanten mit Milchgesichtern dazu angestachelt werden, regelmäßig Nächte durchzuarbeiten, ohne jede reelle Notwendigkeit natürlich, und dass auch dabei manche endgültig auf der Strecke bleiben.

Erst "brennen" für den Job, dann Burnout

Das sind Extremfälle einer real existierenden gesellschaftlichen Entwicklung. Wir prahlen längst nicht mehr mit den schnöden materiellen Belohnungen für die Arbeit, sondern mit der Arbeit selbst. Betonen, wie beschäftigt wir sind. "Sorry, ich schaffe es doch nicht zur Geburtstagsfeier. Busy-busy, du weißt ja... ;)"

Der Zwinkersmiley ist pure Koketterie.
Zeitmangel ein Zeichen für Wichtigkeit.

Urlaub stets als Gesprächsthema präsent und immer exotischer, aber selten angetreten und falls doch, dann fast nie mit dem allen anderen und sich selbst geschworenen Totalverzicht auf Mails und Handy.

Der Boss mag nicht der neue Gott sein, aber der Job ist manchem die neue Religion.
Stress das neue Statussymbol.

Man hat uns eingeflüstert, eingetrichtert, gedroht, wir müssten "brennen" für unseren Job. Viele gehorchen, aus den unterschiedlichsten Motiven. Die einen treibt Angst an, andere ein gesunder Wille zum sozialen Aufstieg und Absicherung ihrer Familien, wieder andere bloß Gier, der Wunsch nach Macht und einem dickeren Porsche, als Papa einen fährt. Zu viele suchen im Job nach Anerkennung in einem Maße, wie sie dort nicht zu finden ist, nach Selbstverwirklichung, Sinn, Liebe. So brennt ein jeder vor sich hin.

Doch wer brennt, verbrennt auch leicht. Der Begriff "Burnout" kommt nicht von ungefähr.

Arbeitsunfälle anderer Art

Wir sind keine Maschinen – und selbst wenn wir es wären, würden wir bei unseren dauerhaft hohen Drehzahlen den Geist aufgeben. Immer auf Höchst-, nie auf Reisegeschwindigkeit? Steigert den Verschleiß. Sorgloses Schwänzen der Wartungstermine? Steigert die Wahrscheinlichkeit des Totalschadens.

Wenn immer alles Schlag auf Schlag geht, droht eher früher als später ein Herz- oder Hirnschlag.

Wir, unsere Freunde, Verwandten und Kollegen in der Dienstleistungsgesellschaft werden selten von schwerem Gerät erschlagen. Wir leiden und sterben an Arbeitsunfällen anderer Art. Mal macht der Kopf zuerst zu, mal der Körper. Oft passiert es indirekt – bei Krisen, Krankheiten, Schicksalsschlägen, für deren Bewältigung keine Reserven mehr verfügbar sind. Manche nehmen sich das Leben. Manche brechen irgendwann "einfach so" zusammen unter Tinnitus, Migräne, Magen- oder Herzbeschwerden, Depressionen oder was das Dauerfeuer der eigenen Synapsen sonst so an Schäden anrichtet. An einem Tag wie jedem anderen im Ausnahmezustand, zu dem der Arbeitsalltag mutiert ist.

Vielleicht sind wir doch nicht falsch abgebogen, sondern haben nur zu stark beschleunigt.

Denn es ist ja fraglos löblich, sich einzubringen und reinzuhängen. Vieles zu geben. Um sich das einem zustehende Geld und die Urlaubstage tatsächlich zu verdienen. Für das Fortkommen, die Karriere, das Konto. Für seine Kollegen, Kunden, Lieferanten, Patienten, Schüler. Doch gerade um all das kontinuierlich tun zu können, müssen wir auf uns acht geben. Die klassischen Spießertugenden wieder höher halten wie pünktlichen Feierabend, genügend Schlaf und vernünftige Ernährung. Arbeitsfreie Zonen schaffen, Zeit für Hobbys, Freunde, Familie.

Und für uns selbst. Ohne Ziel, könnte man sagen, aber richtiger wäre: mit dem wichtigsten Ziel überhaupt: Nichtstun, Gedanken schweifen lassen, zur Ruhe und runterkommen.

Nichts ersetzt den Arztbesuch

Und auch all das zu tun ersetzt keinen Arztbesuch. Nicht wer den immer weiter hinausschiebt, ist stark. Sondern der, der die Möglichkeit zulässt, dass da etwas im Argen liegen könnte mit dem eigenen Körper oder Kopf.

Vielleicht, hoffentlich sorgt Entschleunigung ja für Besserung. Bewegung kann bekanntlich Wunder wirken gegen das, was gern spöttisch "Zivilisationskrankheiten" genannt wird – aber bitte ohne gleich wieder in den nächsten Wettbewerb einzutreten: Nicht jeder Jogger muss demnächst bei Marathons oder Triathlons starten. Egal wie gut sich die Bilder davon bei Facebook machen.

Leistungsdenken hilft nicht gegen Leere. Im besten Fall verdrängt, im schlechtesten verstärkt es sie.

Die Überbetonung des Werts der Arbeit könnte in japanischen Verhältnissen enden. Dort gibt es einen eigenen Begriff für den Tod durch Überarbeitung, "karoshi". Tausende, wenn nicht Zehntausende sterben jährlich daran. Zu einem Umdenken führt das nicht. 2013 ließen japanische Arbeitnehmer 52 Prozent ihres Urlaubs verfallen. In ihrer Verzweiflung erwägt die Regierung, ihre Bürger per Gesetz dazu zu zwingen, ihre Rechte wahrzunehmen. Als Geste stark, als Lösungsansatz wohl wirkungslos.

Also achtet weniger auf eure Projekte, eure Konten, eure Zahlen. Achtet auf Euch!

Jeder auf sich und alle aufeinander.

Alles andere ist unterlassene Hilfeleistung.

(tojo)
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